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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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immer noch viel zu kühl. Keine Schneereste mehr. Kein Sturm. Nur ein beständiger, sanft rauschender Wind und wenige blitzend weiße Schaumkrönchen auf dem Blau des Meeres. Möwen segelten durch die Luft und hinter den Deichen weideten Schafe. Ich wusste, dass es schön war. Doch ich spürte es nicht.
    Viel zu schnell hatte ich den Hafen von Friedrichskoog erreicht -erstaunlich groß für diesen kleinen, verschlafenen Ort. Ein Krabbenkutter reihte sich an den nächsten.
    Ich suchte mir einen Parkplatz, stieg aus, hievte mir den Rucksack auf den Rücken und machte mich zu Fuß auf die Suche nach Luise. Meine Verdauung spielte verrückt und meine Nasenspitze war eiskalt. Ich wusste, was das bedeutete. Ich erlebte es nicht zum ersten Mal. Heute Morgen noch hatte ich das Internet nach den typischen Symptomen durchforstet. Panikattacken. Der Körper signalisiert Todesgefahr, obwohl keine besteht. Deshalb sollte man Ruhe bewahren, sich auf das Atmen konzentrieren und warten, bis das Adrenalin sich wieder normalisierte. Das Problem war nur, dass in meinem Fall möglicherweise tatsächlich Todesgefahr bestand und mein Körper alles richtig machte, indem er auf Panik umstellte. Ich wusste nicht, in welcher Verfassung Colin war. Und ich wusste nicht, ob ich es wirklich überleben würde, wenn mich ein Flashback packte oder ich erneut in seine Erinnerungen abrutschte, sobald ich dort war. Auf Trischen. Das letzte Mal hatte es mir jeglichen Lebensmut geraubt.
    Du kannst immer noch umkehren, bläute ich mir ein. Selbst wenn ihr auf der Insel anlegt, kannst du den Skipper immer noch bitten, dich wieder nach Hause zu fahren. Noch bist du in Sicherheit.
    Da war sie. Die Luise. Unruhig schaukelte sie auf der sanften Hafendünung hin und her, was den Mann auf ihrem Deck nicht aus der Ruhe brachte. Mit dem Rücken zu mir flickte er hockend an einer blauen Plane herum. Ja, das war Nielsen. Verdammt, er war da. Sein Boot war da. Warum hatte ich auf einmal so viel Glück? Schon bemerkte er meinen gaffenden Blick und drehte sich fragend zu mir um.
    »Können Sie mich ...?« Oh Gott, war mir schlecht. Ich versuchte zu schlucken, doch ich brauchte drei Anläufe, bis es klappte und mein Kehlkopf sich fügte. »Können Sie mich nach Trischen fahren? Ich muss dem Vogelwart etwas Wichtiges bringen.«
    Das Lächeln wich schlagartig aus Nielsens wettergegerbtem Gesicht.
    »Dem Vogelwart?«, fragte er misstrauisch. Ich kam etwas näher. »Heute, am Ostersonntag?«
    Oh Gott. Es war Ostern. Das hatte ich vollkommen vergessen.
    »Ja«, erwiderte ich fröstelnd, obwohl die Sonne wärmend auf meinen Rücken schien. »Er ist doch noch dort, oder?«
    Nielsens Miene verdüsterte sich. Er nickte knapp.
    »Ist er. Jahrelang ist mein Vater nach Trischen gefahren, später dann ich, und immer waren die Vogelwarte froh, wenn wir kamen, aber der ...« Er wandte sich wieder seiner Plane zu. »Er sagt, er braucht nichts. Nicht einmal Klönschnack halten will er.«
    Ich vermutete mal, dass er damit auf Colins Wortkargheit und die Tatsache anspielte, dass er kein menschliches Essen benötigte.
    »Aber Sie können mit mir klönschnacken! Auf der Fahrt dorthin!«, gab ich mich gesellig.
    Nielsen antwortete nicht, sondern fuhr fort, seine Plane zu flicken. Ich wagte mich auf den schwankenden Steg und griff nach der Reling des Bootes. Ehe er mich davon abhalten konnte, stand ich neben ihm an Deck.
    »Bitte. Es ist wichtig. Er braucht Medikamente.« Ich griff in meinen Rucksack und hielt ein paar Pillenschachteln hoch, die ich bei
    Paul im Medizinschrank gefunden hatte und die einigermaßen ernst aussahen (was sie jedoch nicht waren - Lutschpastillen gegen verschleimte Bronchien, eine leere Packung Hämorridencreme, längst abgelaufene Schmerztabletten). Seinen Apothekerschrank mit den wirklich ernsten Sachen hatte Paul leer geräumt. Wahrscheinlich eine Vorsichtsmaßnahme mir gegenüber, damit ich nicht wieder einer Medikamentensucht verfiel.
    Nielsen brummte etwas in tiefstem Platt, von dem ich nicht eine einzige Silbe verstand. Was ich aber genau heraushörte, war Angst. Er wollte Colin nicht begegnen.
    Okay. Dann musste ich die Pillenschachteln gegen etwas Gewichtigeres austauschen. Ich streckte ihm ein Bündel Scheine vor die Nase. Langsam richtete er sich auf, schob seine Mütze in den Nacken und musterte mich feindselig.
    »Sie wollen mich bestechen?«
    »Nein«, antwortete ich gekränkt. »Ich möchte Sie bezahlen.« Natürlich wollte ich ihn bestechen. Und die

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