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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Mosaik vollenden. Falls das überhaupt möglich war.
    »Okay, Elisa, wir sind da«, bemerkte Gianna überflüssigerweise. Da ich mich nicht losreißen konnte, saßen wir bereits mehrere Minuten lang stumm in ihrem winzigen, unaufgeräumten Auto. Ich hatte vor unserem Aufbruch zum Hafen erst den Beifahrersitz frei schaufeln müssen (zwei halb leere Wasserflaschen, eine Tüte Bonbons, die zerknitterte Hülle eines Schokoriegels, drei Notizblöcke, eine Kugelschreibermine, das Ladegerät ihres Handys und sieben hüllenlose CDs), um Platz nehmen zu können, und bei jeder Kurve rollten irgendwelche schweren Gegenstände durch den Kofferraum. Die Rücksitze waren komplett mit Jacken, Schals und Regenschirmen bedeckt. Mein Rucksack ruhte zwischen meinen Knien. Gianna hatte gar nicht erst versucht, ihn woanders unterzubringen.
    Ich hatte nicht viel dabei. Etwas zum Schreiben, mein Handy - das ich spätestens auf Trischen nicht mehr würde benutzen können -, Kontaktlinsen, meinen Kulturbeutel, Unterwäsche zum Wechseln, ein Paar frische Socken. Colin und ich hatten noch nie mehr als acht bis zehn friedliche Stunden miteinander verbracht. Für ihn einen Koffer zu packen lohnte sich nicht.
    »Weißt du ...«, sagte ich bedrückt zu Giannas staubigem Handschuhfach. »Eigentlich ist er gar nicht mehr mein Freund. Sondern ein Freund. Also freundschaftlich.«
    »Oh nein!«, rief Gianna mitleidig. »Hat er den bösen Satz gesagt? Er hat doch nicht etwa den bösen Satz gesagt!«
    »Welchen bösen Satz?«, fragte ich lahm.
    Gianna plusterte sich auf. »Lass uns Freunde bleiben! - Fast so schlimm wie >Es liegt an mir, nicht an dir< und >Ist nicht persönlich gemeint    »Nein. Nein, er hat noch keinen dieser Sätze gesagt. Eigentlich hat er es auch gar nicht so klar gesagt, aber ich ...« Ich wusste nicht mehr weiter. Im Grunde hatte er nur das ausgesprochen, was ich in diesem Moment gedacht hatte, obwohl mein Herz darunter litt. Ich hatte seine Berührungen nicht mehr ertragen. Nein, ich hatte sie gar nicht erst gewollt. Doch in den vergangenen Nächten war ich ihm in meinen Träumen wieder nähergekommen. Und ich wusste genau: Wenn ich noch länger wartete, würde es nur schwerer werden. Dann würde die Kluft zwischen Traum und Wirklichkeit so groß werden, dass ich sie irgendwann nicht mehr überbrücken konnte. Denn diese Träume hatte nicht er mir geschickt. Dazu waren sie zu diffus gewesen. Sie waren aus mir selbst entstanden. Auch das Tagträumen wagte ich wieder, ganz sacht, ganz vorsichtig und ohne Musik. Musik wäre zu viel gewesen.
    Gianna klopfte mir ermunternd auf meine Knie. »Du machst das schon, Elisa.«
    Ich seufzte schwer. »Ich muss wohl.«
    »Ciao, bella«, sagte Gianna herzlich, kicherte über die Doppeldeutigkeit ihres Kosewortes (Edward schien für sie ein lieb gewonnener Running Gag zu werden), gab mir einen Kuss auf die Wange und schob mich aus dem Wagen. Ich war schon fast beim Volvo, als ich sie plötzlich nach mir rufen hörte. Fragend drehte ich mich um. Sie stand neben ihrem Auto und lächelte mich beinahe bittend an.
    »Wir sehen uns doch wieder, oder? Hast du dein Handy dabei?«
    »Hab ich. Aber es wird in Colins Nähe nicht funktionieren. Es ... es wird bestimmt alles gut gehen. Bestimmt.« Ich glaubte selbst nicht an meine Worte.
    »Ruf mich an, wenn du zurück bist, okay? Schreib mir eine Mail. Irgendwas! Sonst denke ich, ich hab alles nur geträumt. Bitte!« Sie warf mir eine Kusshand zu.
    Ich nickte, winkte ihr zum Abschied und ignorierte die neugierigen Blicke einer Touristengruppe, die augenscheinlich geschlossen der Meinung war, soeben die ersten zarten Annäherungen eines lesbischen Liebespaars beobachtet zu haben.
    Die Fahrt nach Friedrichskoog war eine einzige Selbstüberwindung. Immer wieder hielt ich an, weil ich mich vor lauter Herzrasen und Übelkeit nicht mehr auf den Verkehr konzentrieren konnte und glaubte zu ersticken, wenn ich nicht sofort an die frische Luft kam. Unzählige Male wollte ich umkehren und bei der einen Ausfahrt tat ich es sogar, um gleich darauf die nächste Auffahrt gen Norden zu nehmen und doch auf meiner Zielgeraden zu bleiben. Ich heulte, schimpfte und betete sogar ein bisschen. Nur ab und zu besaß ich die Nerven, Musik oder Radio zu hören. Auf den letzten fünfzig Kilometern war vollkommene Stille das Einzige, was ich ertrug.
    Es ist anders als beim vorigen Mal, völlig anders, sagte ich mir. Die Sonne schien. Es war mindestens zehn Grad wärmer, wenn auch

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