Scherbenmond
dritten Grund geben musste herzukommen. Du brauchtest ihn als Anlass.«
Ich nickte betreten. So konnte man es in drei Sätzen zusammenfassen.
»Es war dein gutes Recht, dich zuerst um deine eigenen Verletzungen zu kümmern, Ellie. Das ist die Grundvoraussetzung für alles andere.«
Colin erhob sich, trat splitternackt an den roh zusammengezimmerten Kleiderschrank und suchte sich seelenruhig Leinenhemd und eine dunkle Jeans heraus.
»Ich weiß, du hältst dich für seekrank, aber ich möchte so lange wie möglich satt bleiben. Wir fahren zu Louis. Nach Sylt. Dort können wir reden.«
»Ich ... ich bin nicht nur seekrank. Ich hab auch eine Pferdephobie. Aber bitte, wenn ich mir eine Lungenentzündung holen soll. Ich habe nämlich zufällig nicht einmal trockene Socken. Und nur noch einen Stiefel.« Ich wackelte anklagend mit den Zehen.
»Das mit den Klamotten können wir lösen. Vielleicht passt dir etwas von Juliane.«
»Juliane?«, fragte ich misstrauisch und mit einem Mal schoss ätzende Eifersucht durch meine Brust. Wer war nun bitte Juliane? Colins Zweit- und Nebenfrau, wenn ich nicht da war?
»Die Vogelwartin. Ihr geht es übrigens wieder etwas besser.«
Colin warf mir eine Hose zu, in die ich zweimal reinpasste, gekrönt von schlabberiger grauer Unterwäsche, unförmigen Boots und einem jägergrünen Fleecepulli. Während er sich in den heimlichen Traum jedes homosexuellen Designers verwandelte, durchlebte ich die unglückliche Metamorphose zur scheinbar übergewichtigen Vogelscheuche.
Also hockte ich in meinem XL-Aufzug vor der Hütte im Sand und wartete geduldig, bis Colin samt Boot vom Meer zurückkehrte. Er hatte es draußen auf einer Sandbank liegen gelassen, als er die Wale gewittert hatte. Ich hätte mich gerne wieder an den warmen Ofen und in Colins Bett vergraben. Faul neben ihm zu liegen hätte mir genügt. Zu wissen, dass er da war. In Reichweite. Ja, es hätte genügt, ohne zu reden, den Nachhall auszukosten, den unser Zusammentreffen in mir hinterlassen hatte. Denn so etwas wie das eben hatte ich noch nie erlebt. Schon jetzt dachte ich mit einer Mischung aus Scheu, Betörung und Melancholie daran zurück. Und trotz meines
Hungers fing mein Magen zu beben an, wenn ich mich an Colins Worte erinnerte, an das, was er mir ins Ohr geraunt hatte, bevor ...
»Einsteigen bitte.« Colins schmaler Schatten fiel vor mir auf den Sand. Ausgeträumt. Ich musste mich erneut dem Meer stellen.
Hand in Hand liefen wir hinunter zum Boot, das in der seichten Brandung schaukelte. Colin hob mich mit spielerischer Leichtigkeit hoch und trug mich über die Wellen, damit ich nicht nass wurde -was ziemlich sinnlos war, da er selbst eben noch durch die salzigen Fluten geschwommen war. Ich schlang meine Arme um seinen Hals und schmiegte meine kalte Wange an seinen Nacken. Ohne ein Wort setzte er mich auf dem Boot ab und drehte den Zündschlüssel.
Die See war so glatt und ruhig, dass das Boot mühelos dahinglitt. Keine Schläge, kein Schlingern, keine eisigen Böen. Nur das sonore Tuckern des Motors und das gleichmäßige Rauschen des Wassers um uns herum. Zu laut, um sich zu unterhalten, zu leise, um Angst zu bekommen. Für einen euphorischen Augenblick glaubte ich, das Meer eigenmächtig milde gestimmt zu haben. Es war mir untertan und gönnte mir Frieden.
Ich lehnte mich zurück und sah hinauf in die Sterne. Ich brauchte gar nichts. Weder Nahrung noch Worte noch Berührungen. Und auch keine neuen Eroberungen. Mein Körper gehörte mir und meine Seele begann sich mit ihm zu versöhnen. Es war kein wunschloses Glück, sondern die tiefe, erholsame Entspannung eines Waffenstillstands zwischen zwei Schlachten. Die erste hatte ich gewonnen. Die zweite war noch weit, weit weg.
Colins Geländewagen wartete am Hörnumer Hafen auf uns. Als ich mich - steif vom langen Verharren und bis in die Knochen durchgefroren - auf den Beifahrersitz schob und Colin mein Gepäck auf die Rückbank warf, traten mir zum ersten Mal die Tränen in die Augen. Ich blinzelte sie irritiert weg, doch das Bedürfnis zu weinen blieb. Obwohl ich das Schweigen mit Colin gerne noch weiter ausgedehnt hätte, versuchte ich den Druck in meiner Kehle mit Reden zu verscheuchen.
»Meinst du nicht, dass die Stallbesitzer sich wundern, wenn du so spät dort auftauchst?« Immerhin handelte es sich um einen Stall mit Ferienwohnungen und Touristen-Ponyreiten.
»Nein. Ausnahmsweise nicht. Es ist schließlich schon öfter vorgekommen. Aber die holde
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