Scherbenmond
um bleiben zu können. Ich habe Hoffnung, dass die Wale noch da draußen sind. Ich reite mit Louis an den Strand und suche sie, denn sie sind gen Norden gezogen. Ich tue das, um bei dir zu bleiben. Und nicht, um zu fliehen.«
»Okay. Ist gut.« Schon wieder begann ich zu weinen. Aber dieses Mal vor Erleichterung.
»Du hattest gar keine Angst.« Colins Atem streifte kühl meinen Hals, und ohne es zu entscheiden oder zu planen, wanderten meine Finger unter sein Hemd und zogen es aus der Hose. »Du hast mir den Verstand geraubt. Ich wäre ein Idiot, wenn mich das in die Flucht schlagen würde.«
»Okay«, wiederholte ich lahm und stellte fest, dass meine linke Hand wieder Sonderfahrten unternahm und sich, nachdem ich sie unter den Gürtel geschoben hatte, beherzt um seine nackte Pobacke legte. »Knackarsch«, setzte ich vorwurfsvoll hinzu und fühlte mich mit einem Mal beruhigt und geborgen. Postkoitale Traurigkeit, Sehnsucht, Wehmut, Melancholie. Was hatte ich denn anderes erwartet? Ich war mit einem Mahr zusammen. Es musste so sein.
Und jetzt musste ich ihn gehen lassen, so schwer es mir und meiner linken Hand auch fiel. Umständlich befreite sie sich aus seiner Jeans.
Colin stand da wie vom Donner gerührt. Seine Augen sahen benebelt durch mich hindurch.
»Was ist?«, fragte ich. »Worauf wartest du?«
»Darauf, dass wieder Blut in mein Gehirn fließt.« Er schüttelte sich, als wolle er sich von seinen eigenen Gedanken befreien, und auch die letzten Strähnen lösten sich aus seinem Zopf. Das Band glitt ihm aus dem Haar, doch ich fing es rechtzeitig auf.
»Warte kurz«, bat ich Colin und drehte ihn um, stieg auf das Höckerchen neben dem Bett und flocht seinen Zopf neu. Die dunklen, glänzenden Strähnen kribbelten unter meinen Fingern, und noch während ich das Band verknotete, begannen sie zu rebellieren. Doch für eine Weile sollte es halten. Kritisch begutachtete ich das Ergebnis. Colin sah umwerfend aus.
»Warum sind sie so schnell gewachsen?«
»Das Meer«, antwortete er achselzuckend. Ohne mich zu küssen oder zu umarmen, aber mit einem Blick, bei dem mir Hören und Sehen verging, verließ er das Haus und verschwand in der Nacht. Kurz darauf vernahm ich das gleichmäßige Trappeln von Louis’ Hufen, das sich näherte, an mir vorbeizog und schließlich langsam verklang.
Erschöpft schlüpfte ich aus meinen Kleidern, zu müde, um noch Wasser an meine Haut zu lassen, meine Haare zu kämmen oder mir gar die Zähne zu putzen, und kroch unter die schwere weiße Daunendecke.
Als ich einschlief, hörte ich die Wale singen. Ganz nah.
Wandelgang
»Du kannst nicht nur von Luft und Liebe leben, Lassie.«
Wie immer holte Colins Stimme mich zielsicher und schnell aus meinen Träumen. Noch war ich nicht bereit, mich der Wirklichkeit zu stellen, und hielt die Augen geschlossen. Doch als mein Bewusstsein sich erst meines Kopfes und dann meines Körpers - warm, träge, entspannt - bemächtigte, sah ich durch meine Lider hindurch, dass noch Nacht herrschte.
»Du musst etwas essen, wenn du nicht ohnmächtig werden willst. Das hatten wir doch im Sommer schon.«
Weise Worte. Obwohl ich lag, fühlte ich mich schwindelig. Wahrscheinlich hatte ich deshalb eben noch von einer nicht enden wollenden Fahrt mit einem Aufzug geträumt, der viel zu schnell nach oben und nach unten raste, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte.
»Hmhmm«, brummelte ich schläfrig und öffnete gehorsam meinen Mund. Oh, das war ... buttrig. Ein Hauch Vanille. Feines Zimtaroma. Quark? Eier? Jedenfalls war es ein Stück Kuchen, wahrscheinlich Napfkuchen. Ambrosia.
»Mehr«, forderte ich gebieterisch und wartete wie ein Vögelchen im Nest mit auseinandergeklapptem Kiefer auf das nächste Häppchen. Erst nach dem dritten Bissen schlug ich die Augen auf. Colin saß vor meinem Bett im Schneidersitz auf dem Boden und sah mir interessiert beim Kauen zu.
Er musste die Wale gefunden haben. Seine Haut schimmerte im Dunkel des Zimmers, die Haare wanden sich sacht und seine Augen versprühten schwarz glitzernde Funken. Der Teufel fütterte mich und ich liebte ihn dafür. Doch ich brauchte auch etwas zu trinken.
»Wasser.«
»Ich habe etwas Besseres.« Er hielt mir einen Becher an den Mund, und ehe meine Nase erkennen konnte, was sich darin befand, schluckte ich gierig. Heiße Schokolade. Ja, das war in der Tat besser. Viel besser. Kaum gesüßt, aromatisch, stark.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Träume delikater schmecken«, murmelte ich
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