Scherbenmond
Insel für mich bedeuteten. Anfang und Abschied, Grauen und Erlösung. Ich hatte mich hier selbst verloren, und das nicht nur einmal. Und jetzt hätte ich alles dafür gegeben, dieses Eiland halten zu können.
Ich nutzte Colins Jagd, um Gianna eine SMS zu schreiben. Colin hatte vor, mit mir nach Hamburg zu fahren, um sie auf ihre Vertrauenswürdigkeit zu prüfen - wie immer er das auch anstellen wollte. Er hatte mir Stein und Bein geschworen, ihr dabei nicht zu schaden. Auch darin musste ich ihm vertrauen. Jedenfalls sollte Gianna um Punkt einundzwanzig Uhr am Hafen sein, auf dem Parkplatz, zu dem sie mich vor meiner Abreise gebracht hatte.
Auf meiner Mailbox fand ich eine Nachricht von Tillmann. Sie klang nach Urlaub. Mit Paul alles okay, ich müsse mir keine Sorgen machen, dass er zu viel an François denke, er selbst habe ein Mädchen von der Crew kennengelernt und genieße es, mal wieder der Hengst zu sein. Mal wieder? Er war gerade erst siebzehn.
»Na, dann rammel dich am besten um deinen Verstand«, simste ich ihm und meinte meine abschätzigen Worte ernster, als er ahnen würde. Ihn konnte es ablenken, wenn er sich diesen Dingen hingab. Mich brachte es nur näher an die Welt der Mahre, als wir riskieren konnten.
Am frühen Nachmittag nahm Colin mir die Prüfungen ab, mit eisgrünem Blick und flammendem Haar. Dann setzte er sich eine Wollmütze und die dicke Sonnenbrille auf, schaffte meinen Rucksack ins Boot und wartete, dass ich einstieg.
»Wo ist dein Kimono?«, fragte er, als ich zu ihm kletterte.
»Oben, wo sonst?«, gab ich zurück.
»Denkst du etwa, das war alles? Los, hol ihn, und zwar schnell. Du wirst ihn noch brauchen.«
Ich verstaute Oberteil und Hose in zwei Plastiktüten, die ich in dem Küchenschränkchen fand, drückte Miss X zum Abschied einen Kuss auf ihre dunkelrosa Schnauze und gab mir Mühe, die Tüten so respektvoll wie möglich ins Boot zu werfen. Ich war nicht in der Stimmung für Etikette und Höflichkeiten.
»Wenn du denkst, dass ich mit wirbelnden Fäusten Pauls Flur entlangschreite, hast du dich getäuscht«, knurrte ich, als Colin den Motor anschmeißen wollte.
»Das musst du nicht. Du darfst in einer Turnhalle trainieren. Mit Lars. Du wirst dich nach mir sehnen. Er ist nämlich ein richtiges Arschloch.«
»Du bist kein Arschloch«, antwortete ich pflichtbewusst, aber ohne rechte Überzeugung.
»Dafür hast du mich im Geiste aber ziemlich oft eines genannt. Ich bin ein Arschloch, wenn es die Situation von mir verlangt. Lars hingegen macht es Spaß, eines zu sein. Aber er ist ein guter Lehrer und ich habe Einzeltraining für dich arrangieren können. Jeden Nachmittag um siebzehn Uhr bis zum Kampf. Die Adresse der Turnhalle findest du in deinem Rucksack.«
»Dein Abschiedsgeschenk?«, fragte ich säuerlich. Colin grinste mokant und drehte den Zündschlüssel herum. Das Brausen des Motors und des Wassers machte jede weitere Unterhaltung unmöglich.
Bei dieser Fahrt zurück ans Festland verlor ich keinen Gedanken an Seekrankheit, Flashbacks oder Panikattacken. Meine Augen hielten sich an Trischen fest, bis die Insel im Meer verschwand und sich eine gähnende Leere in meinem Bauch ausbreitete. Es war Hunger - aber nicht jener Hunger, den man mit Essen stillen konnte, sondern eine gefräßige, zehrende Wehmut und Melancholie. Schon jetzt wollte ich wieder zurück und ich verstand, was Colin so leicht dahingesagt hatte. Du wirst dich nach mir sehnen. Ich tat es jetzt schon.
Viel zu schnell erreichten wir Friedrichskoog, wo Colin sich an das Steuer des Volvos setzte und mich nach Hamburg fuhr. Ich dämmerte nach den ersten Kilometern weg, obwohl ich wach bleiben wollte, um Colin wenigstens neben mir fühlen zu können. Ich hatte den Verdacht, dass er mir diesen Schlaf schenkte. Er wollte es mir leichter machen. Und so wurde ich erst wieder wach, als es dunkel war und wir den Hamburger Hafenparkplatz erreicht hatten.
Giannas rotes, eckiges Auto stand in Sichtweite neben einer Laterne. Ich sah ihre schmale Gestalt als dunkle Silhouette hinter dem Steuer, steif und verkrampft. Sie hatte das Licht im Wagen gelöscht. Ich konnte nicht erkennen, ob sie zu uns herüberblickte und in welcher Stimmung sie sich befand. Ihrer Körperhaltung nach zu urteilen jedoch in keiner besonders guten.
Als Colin den Motor ausschaltete, vernahm ich ein blechernes Dröhnen, das von Giannas Auto zu uns herüberschwappte - wütendes Getrommel, entfesselte Gitarrenriffs und ein exorzistisch schrilles
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