Scherbenmond
Jahrhundert stammte. Ungeduldig fummelte ich an den Verschlüssen herum, bis sie endlich aufklappten.
»Was haben wir denn da?« Gianna schnappte sich die Papiere aus dem Koffer und fächerte sie fachkundig durch. »Immobilienanzeigen ... «
»Immobilien? Gib her!« Ich entriss ihr die Exposés. Es handelte sich vor allem um Villen in Blankenese, aber auch um Geschäftsräume in der Speicherstadt. Vermittler: Immobilienbüro F. Later, Hamburg.
»Er hat also Paul die Wohnung angedreht ... Aber Papa hätte ihn doch erkennen müssen! Das ergibt keinen Sinn. Papa hat Colin sofort erkannt und erst recht hätte François Papa erkennen müssen.«
»Nee. Nicht unbedingt.« Gianna schüttelte nachdenklich den Kopf. »Schau mal hier. Paul hat den Vertrag selbst unterschrieben. Warum auch nicht? Er war ja schon volljährig.« Sie reichte mir die Kopie eines Kaufvertrags. Sie hatte recht. Pauls Unterschrift.
»Wahrscheinlich hat dein Vater François niemals zu Gesicht bekommen. Aber François war schon damals in Pauls Leben getreten. Das klingt fast, als ob es sein Plan gewesen wäre, Paul zu befallen, oder?«, folgerte Gianna.
Oh ja, das tat es. Genauso plausibel war aber, dass Paul bei seiner Wohnungssuche zufällig auf das Immobilienbüro Later gestoßen war und François sofort gespürt hatte, dass er das ideale Opfer war. Und er hatte ihn sich gekrallt. Paul hatte immer am Wasser wohnen wollen. François war es vermutlich nicht schwergefallen, in ihm den Wunsch zu wecken, genau diese Wohnung unbedingt haben zu wollen - diese und keine andere. Weil sie ihm sein Opfer bestmöglich präsentierte.
Nicht auszumalen, was geschehen wäre, wenn Papa ihm begegnet wäre. Aber der hatte wohl aus der Ferne brav bezahlt und die Wohnung erst gesehen, als sie Paul schon gehörte. Für satte vierhunderttausend Euro, angemeldet als Galerie und nicht als Privatwohnung. Schlau eingefädelt, François.
»Woher hat dein Vater eigentlich so viel Geld, Ellie? Gut, er ist Psychiater, aber so reich sind die doch auch nicht... Das ist fast eine halbe Million!«
»Ich hab mir darüber nie großartig Gedanken gemacht«, gab ich unumwunden zu. »Ist jetzt ja wohl auch nicht wichtig, oder?«
Doch Giannas Einwand war berechtigt. Das Geld im Safe, ein Haus mitten in Köln, unsere sicher nicht billigen Urlaube im Nirgendwo - das war etwas zu viel des Guten für einen »normalen« Psychiater, zumal Papa niemals eine eigene Praxis gehabt hatte.
Mit pulsierenden Fingern legte ich die Papiere in den Koffer zurück und verfrachtete ihn wieder auf den modrigen Zeitungsstapel, wo ich ihn entdeckt hatte.
»Da ist noch ein Gang, Ellie«, vermeldete Gianna voller Unbehagen. Doch man konnte diese schmale Nische kaum als Gang bezeichnen. Wir mussten uns auf alle viere begeben, um zwischen stinkenden, mit Rattenkot beschmutzten Klamottenbergen und unter den quer gelagerten Kulissenteilen, deren Inneres sicher vor Kellerwanzen und Schaben wimmelte, durchkriechen zu können, und gelangten schließlich keuchend und schimpfend zur letzten Dreckhöhle - dem Ausgangspunkt von François’ Mahrgenesis.
Auch hier stapelten sich Requisiten, die mich jedoch eher an einen Wanderzirkus erinnerten als an den Fundus eines Zauberers. Paul hätte seine helle Freude daran gehabt. Es sah fast so aus, als habe François davon gelebt, Kuriositäten vorzuführen und dafür Eintritt zu verlangen - Frösche mit fünf Beinen, einen ausgestopften Fuchs, über dessen rechtem Auge ein bizarres Geschwür prangte, mehrere Schrumpfköpfe und eine in Harz gegossene Mumie. Das Grauenvollste aber war ein menschlicher Embryo mit zwei Schädeln, der in Alkohol eingelegt in einem bauchigen Glas schwebte.
Gianna zog eine zerfallende Mappe unter einem mutierten Frosch hervor. Vorsichtig blätterte ich sie auf. Sie enthielt die Unterlagen zu einem Gerichtsurteil. Lebenslange Haft wegen räuberischen Mordes. Das Opfer im Schlaf erdrosselt. Täter: der 19-jährige Franz Münster. Ein Mensch, kein Mahr, zumindest auf dieser Porträtskizze. Doch in seinen Augen lauerte bereits der Hunger. Die Zeichnung musste direkt nach der Verwandlung angefertigt worden sein und offenbar hatte Franz es bei seinem ersten Traumraub ein wenig übertrieben. Colin hatte recht gehabt. Er konnte schon vorher kein Sympath gewesen sein, wenn er so gierig auf seine Beute losgegangen war. Vielleicht hatte er die Metamorphose sogar dankend angenommen.
»25. Februar 1822«, las ich das Datum des Gerichtsurteils vor. »Okay,
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