Scherbenmond
alles wieder aufgebrochen. Jetzt weiß ich Dinge, die ich nie hatte wissen wollen ...«
»Es war notwendig«, sagte ich mit einer Härte, die mir selbst fremd war. »Setz dich damit auseinander. Finde einen Weg. Beschäftige dich damit. Schreib ihm deine eigenen Erinnerungen, okay? Schreib bis übermorgen Abend. Und dann kommst du hierher. Schreiben kannst du doch, oder?«
Kopfschüttelnd stand Gianna auf, warf mir einen Blick zu, der mich endgültig als Verrückte klassifizierte, und rannte die Treppen hinunter.
»Lass Paul nicht im Stich, hörst du?«, schrie ich ihr hinterher.
»Das würde ich nie und das weißt du genau, Elisa!«, brüllte sie zurück. »Das ist das Gemeine an dir! Du bist berechnend!«
»Berechnend«, äffte ich sie nach, sobald ihre Schritte verklungen waren. »Tja, sorry, das muss ich nun mal sein, um deinen Pelz zu retten.« Dabei fühlte ich mich nicht einen Hauch berechnend. Nein, ich fühlte mich, als würde jemand anderes mein Leben berechnen und mich umprogrammieren. Zelle für Zelle, zu einem ganz bestimmten Zweck, der mir vollkommen im Verborgenen blieb.
Meine Wange brannte immer noch - Gianna hatte mehr Kraft, als ich geahnt hatte -, als endlich Pauls schwere Schritte im Hauseingang ertönten und der Aufzug ihn scheppernd nach oben brachte. Ich stellte mich in den Türrahmen, um ihn zu empfangen, und sah sofort, dass er keine Tasche trug.
»Hi, Lupine«, sagte er matt, doch seine Augen blitzten kurz auf.
»Wo ist deine Tasche? Soll ich sie holen?«, fragte ich eilfertig.
»Nein. Ich bin schon noch in der Lage, meine Tasche zu tragen. Behandle mich nicht wie einen schwer kranken Mann, bitte. Ich wollte auch nur kurz Hallo sagen. Ich übernachte bei François.«
»Nein. Nein! Das darfst du nicht!«, rief ich entsetzt und schlug im gleichen Moment die Hände vor den Mund. Wieso hatte ich mich nur so schlecht unter Kontrolle? »Bitte nicht, Paul, bleib hier, du kommst gerade erst aus der Klinik und ... «
»Genau. Ich komme aus der Klinik und habe François seit Sonntag nicht mehr gesehen. Du aber warst jeden Tag mindestens dreimal da, zur großen Freude sämtlicher Ärzte und Schwestern.« Denen ich immer wieder versucht hatte, ins Handwerk zu pfuschen. Aber nur weil ich im Gegensatz zu ihnen wusste, was Paul tatsächlich fehlte. Gesunder Schlaf. Träume. Glück. Und was machten sie? Zapften ihm ständig Blut ab, warfen ihn um sechs Uhr aus den Federn - ausgerechnet dann, wenn er am tiefsten schlummerte - und verabreichten ihm haufenweise überflüssige Medikamente.
»Trotzdem, Paul... bitte bleib da. Bitte. Bitte!«, flehte ich ihn an.
»François wartet am Sandtorkai. Ich muss jetzt weg. Mensch, versteh das doch, Ellie. Sein Hund ist gestorben, er braucht mich jetzt. Morgen bin ich wieder da - er will ja am Freitag schon ganz früh nach Dresden aufbrechen und wir haben nur heute Abend. Wir müssen eine Menge besprechen. Akzeptier das bitte. Ich fand deinen Typen auch nicht prickelnd. Hab ich deshalb was dazu gesagt? Nein.«
Prickelnd fand ich Colin momentan ebenfalls nicht. Allerhöchstens unangenehm prickelnd. Heute Nacht hatte er sich auf eine Art und Weise in meine Träume geschlichen, die ich nicht einmal zu beschreiben wagte. Er hatte mich dabei gewürgt. Und immer wenn es mir gelungen war, einen Finger von meiner Kehle zu lösen, war sein Griff fester geworden. In letzter Sekunde war ich aufgewacht und es hatte sich angefühlt, als hätte der Traum die Macht gehabt, mich zu töten.
Träumte man vom Ersticken, wenn man aus irgendeinem Grund beim Schlafen keine Luft bekam? Oder bekam man keine Luft, wenn man vom Ersticken träumte? Mein Gesicht hatte bläulich geschimmert, als ich mich anschließend im Spiegel betrachtet hatte, und in meinen Augen waren Äderchen geplatzt. Den Rest der Nacht schlief ich ohne Bettdecke. Falls man das unruhige Herumwälzen überhaupt als Schlaf bezeichnen konnte.
Und Colin war ein »guter« Mahr. Ich bezweifelte mittlerweile zwar, dass es gute Mahre gab, aber François war definitiv keiner von den Guten. Was nur, wenn er heute Nacht in einen Fressrausch geriet und niemand von uns in der Nähe war, um Paul wiederzubeleben? Doch der hatte sich schon umgedreht und hob die Hand zum Gruß.
»Bis morgen, Ellie.«
Ich wollte ihm hinterherrennen, ihn aufhalten, doch wieder geschah das, was in den vergangenen Nächten schon einige Male passiert war, als ich aus meinen Albträumen erwacht war und durch die Wohnung lief, um mich mit der Frage
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