Scherbenmond
Geschöpf Gottes, Colin, dachte ich. Du bist eine Ausgeburt der Hölle.
Das Letzte, was mein Körper tat, war das, was er am besten konnte. Meine Tränen versuchten, seine Hand zu lösen und den Tod zu vertreiben, perlten weich und salzig über seine eisigen Finger.
Unvermittelt ließ er los. Ich hörte keine Schritte, kein Plätschern des Wassers, auch die Luft bewegte sich nicht - aber die Hand war weg. Die Hand. Nicht er. Er wartete im Verborgenen auf die nächste Gelegenheit. Es machte ihm mehr Spaß, mich in Raten zu töten.
»Hilfe!«, schrie ich, doch es kam kein Laut, wie in meinen schlimmsten Träumen. Ich konnte nicht mehr schreien. Es war nur ein flüsterndes, heiseres Rufen - das Rufen einer Wahnsinnigen. »Hilfe, ich werde umgebracht, bitte helft mir doch, bitte ...«
Auf einmal waren Menschen um mich herum, Füße, die neben mir herliefen, während ich bäuchlings über den Boden robbte und ohne Stimme kreischte: »Hilfe, ich sterbe, er bringt mich um, Hilfe.«
Jemand griff nach meinem Arm, doch ich wand mich heraus, wollte nicht angefasst werden, nicht angesprochen, in keine Gesichter sehen ... Ich musste weg, verstanden die Leute das nicht? Ich musste weg hier, er war immer noch da, warum bemerkte ihn denn niemand? Er war dicht hinter mir, hing unter dem Brückenbogen, rücklings ...
»Ist in Ordnung, sie gehört zu mir, bitte gehen Sie weiter ... Weitergehen! Hier gibt es nichts zu sehen.«
Obwohl ich strampelte, wimmerte und spuckte, schoben sich zwei Arme unter meinen Bauch und nahmen mich hoch, um mich wegzutragen.
»Jetzt geht endlich weiter! Ihr elenden Gaffer! Kümmert euch um euren eigenen Kram!«
Noch immer schrie ich, ein tonloses Betteln, doch als die Tür hinter mir klappte und ich an den Bildern vorbeigetragen wurde, verstand mein Kopf langsam, dass ich in Sicherheit war. Vorerst. Eine Zwischenlösung, mehr nicht.
Er wartete da draußen, immer noch. Aber ich durfte Luft holen. Auf den letzten Metern verließ Tillmann die Kraft und er ließ mich stöhnend aufs Sofa fallen.
»Mann, Ellie. Was war das denn? Sind deine Augen wieder okay?«
Irritiert berührte ich meine Lider. »Was meinst du - wieder okay?«
Tillmann schaute mich mit einem Blick an, der mein eigenes Entsetzen widerspiegelte und trotzdem voller Skepsis war.
»Deine Augen ... die waren total verdreht. Man hat fast nur das Weiße in ihnen gesehen. Das war echt heftig.«
Nur das Weiße gesehen - wie bei Marco. Ich erinnerte mich an Dr. Sands Worte. »Er blickt nach innen.« Aber das eben war kein Flashback gewesen. Ich hatte es wirklich erlebt. Zum allerersten Mal. Nie zuvor war ich auf diese Weise bedroht worden, obwohl ich oft genug durch Kölns Nachtleben gezogen war.
»Colin ist hier. Colin ist in der Stadt!«, wisperte ich. Noch immer blutete die kleine Wunde in meiner Wange. »Er hat mich verfolgt und ...«
»Colin? Da war kein Colin. Nur ein paar Passanten.«
»Ja, als du mich gefunden hast! Aber vorher ... vorher war außer uns niemand unterwegs. Er hat mir die Hand vor den Mund gehalten und ...«
»Warum sollte er das denn tun? Das ergibt keinen Sinn. Nee, Ellie, ich glaub, du hast dir was eingebildet. Colin hat gesagt, dass er bis zum Kampf auf Trischen bleibt, oder? Und hier gibt´s eine Menge zwielichtige Typen. Die Reeperbahn ist quasi um die Ecke. Du solltest nicht alleine da draußen rumlaufen.« Ja, das klang alles logisch, was Tillmann sagte. Aber es stimmte nicht. Nicht in diesem Fall. »Warum bist du überhaupt rausgegangen?«
»Ich wollte Paul aufhalten, weil er heute Nacht bei François schlafen will!« Meine Stimme brach vor Anspannung. »Und jetzt ist es zu spät... Ich halte das nicht mehr aus ... «
Tillmann sah mich lange an. Noch nie hatte er so erwachsen und vernünftig gewirkt. Ich wusste nicht, ob ich diesen Zug an ihm mochte. Er fühlte sich mir überlegen. Und er wusste, dass er auf mich aufpassen musste und nicht umgekehrt. Jetzt fing es auch bei ihm an. Er begann, an meinem Geisteszustand zu zweifeln.
»Ja, genau«, sagte er schließlich leise. »Du hältst das nicht mehr aus, oder? Ellie, nur noch zwei Nächte. Das schaffen wir, okay? Schau mal, Paul war im Krankenhaus, wurde in den letzten Tagen nicht angefallen, wahrscheinlich geht es ihm ganz gut. Und wir können sowieso nichts machen. Wenn wir zu ihm gehen, wird François etwas wittern. Wir müssen darauf vertrauen, dass er die Nacht heil übersteht.«
»Aber das ist es ja gerade!«, warf ich zitternd ein. »Ich kann
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