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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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zu quälen, wie es weitergehen sollte. Ich stand plötzlich starr da, unfähig, mich zu bewegen oder Entscheidungen zu treffen, während meine Gefühle und Gedanken sich zu einem Orkan zusammenfanden, der mit zerstörerischer Wirkung durch mein Hirn raste und ein wirres weißes Rauschen hinterließ. Ich dachte und fühlte alles gleichzeitig, ohne es einordnen oder gar Konsequenzen daraus ziehen zu können. Ich war mir selbst ausgeliefert.
    Es dauerte Minuten, bis ich mich aus diesem Sturm befreien konnte und es schaffte, Paul nachzulaufen. Doch François’ Jaguar war schon fort. Ich konnte ihn nicht mehr einholen. Und ich durfte es vor allem nicht tun. Oh Gott, ich durfte es nicht tun! Vielleicht hatte François meine Worte gehört. Mahre hatten gute Ohren. Er saß vielleicht in seinem Wagen und hatte jeden einzelnen meiner Gedanken vor sich gesehen. Wusste Bescheid.
    Doch irgendetwas in mir trieb mich dazu weiterzulaufen, ziellos und planlos durch die Speicherstadt, an den Fleeten entlang, über die Brücken, kreuz und quer. Ich quetschte mich ohne Rücksicht und Entschuldigungen durch die Touristen, geriet auf dem feuchten Pflaster ins Schlittern und musste mich einige Male an einem der Geländer festhalten, um nicht zu fallen. Je länger ich rannte und je finsterer und einsamer die Speicherstadt wurde, desto sicherer war ich mir, dass jemand hinter mir her war. Ich hatte es die ganze Zeit schon gespürt, doch jetzt hörte ich es auch - Schritte. Behände und leichtfüßig. Sie verstummten, sobald ich stehen blieb, und hallten durch die Nacht, wenn ich rannte. Oder war es das Echo meiner eigenen Absätze?
    Ich drückte mich in einen Hauseingang und lauschte. Klapp, klapp, klapp. Stille. Nein, das war kein Echo gewesen. Das waren Schritte. Keine Einbildung. Keine Paranoia. Hier war jemand, der es auf mich abgesehen hatte.
    Ich versuchte, mein Atmen zu drosseln, leise zu werden - lautlos und unsichtbar. Doch auch die Schritte meines Verfolgers waren verstummt. Er war nicht fort, nein, das brauchte ich mir nicht einzureden. Er war hier. Ich spürte ihn. Nicht direkt neben mir, aber er wartete darauf, dass ich mich rührte. Er wollte mich mürbe machen.
    Ich drückte meine Wange an das zerfressene Gemäuer des Hauseingangs und schaute um die Ecke, um nach einem Fluchtpfad zu suchen - und zuckte zurück, als habe mich der Schlag getroffen.
    Da stand er - aufrecht und lauernd mitten auf der Brücke. Er gab sich keinerlei Mühe, sich in irgendeiner Form zu verbergen. Nebel umwaberte seine Füße, sodass er zu schweben schien, doch er blickte mir direkt entgegen, eine finstere, hoch aufragende Silhouette mit funkelnder Glut in ihren Augen, die schwarze Blitze durch den Dunst schickten. Ich kannte diese Gestalt - oh, ich kannte sie so gut. Unter Tausenden hätte ich sie erkannt. Eigentlich liebte ich sie sogar. Aber noch nie hatte sie mir solche Angst eingejagt.
    »Colin«, krächzte ich hilflos, doch in dem Moment, als ich seinen Namen aussprach, drehte er sich elegant um und verschwand im Nebel. »Colin! Was tust du hier?«
    Obwohl ich torkelte und schwankte wie eine Betrunkene, setzte ich ihm hinterher. Er war wie vom Erdboden verschluckt - keine Schritte, kein Hallen. Nur das grausam gewisse Gefühl, immer noch fixiert und beobachtet zu werden. Deshalb verwunderte es mich nicht, als sich plötzlich eine eiskalte Hand von hinten über meinen Mund und meine Nase legte und so fest zudrückte, dass meine Eckzähne die Wangeninnenseite aufschlitzten. Warmes Blut strömte über meine Zunge und die Übelkeit schnellte in Sekundenbruchteilen meine Kehle hinauf.
    Die Hand drückte meinen Kopf zurück, bis mein Nacken knackte und meine Wirbelsäule zu brechen drohte. Sehen konnte ich nichts. Immer wenn ich versuchte, meine Lider zu heben, streifte sie ein frostiger Luftzug und sie fielen zu. Es war mir unmöglich, Luft zu holen. Die Hand war wie eine todbringende Schneelawine, die mich meterhoch umgab und keinem einzigen Sauerstoffmolekül Platz bot.
    Meine Füße erlahmten und das Kribbeln in meinen Fingerspitzen verriet mir, dass mein Bewusstsein dem Kampf nicht mehr lange standhalten würde. Ich starb. Und ich hatte den Mann geliebt, der mich jetzt umbrachte, mir mein Leben nahm, einfach so, auf offener Straße, mitten in einer Stadt - und weit und breit keine Seele, die mir helfen oder mich wenigstens dabei begleiten konnte.
    »Ich hoffe, dass er mich zu seinen Geschöpfen zählt«, hatte er gesagt. Nein, du bist kein

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