Scherbenmond
ist, diese Pläne umzusetzen. Wir müssten sie einerseits bekämpfen und andererseits für uns nutzen, und wie entscheiden wir, wer wofür gut ist? Denn alle Mahre sind hungrig, oder? Keiner möchte sich freiwillig mit schlechten Gefühlen vergiften. Außerdem - was würden Ihre geschätzten Kollegen zu Ihren neuen Methoden sagen?«
»Sie haben recht. Die Zeit ist noch nicht reif.« Seufzend setzte Dr. Sand sich auf die Schreibtischkante, die sich nun in tiefen Dellen auf seinen Handinnenflächen abzeichnete. Gedankenverloren strich er darüber. »Aber ich hoffe, dass der Tag kommt. Und ich hoffe, dass
Sie dabei eine Rolle spielen, Elisabeth. Eine gute Rolle. Sie sind der erste Mensch, der sich in einen Cambion verliebt und es überlebt hat. Sie sind intelligent, neugierig, können hervorragend logisch denken. Sie brauchen nur ein entsprechendes Studium, Sie müssten Ihre Sensibilität ein wenig in den Griff kriegen ... «
»... was unmöglich ist...«, ergänzte ich spitz.
»Oh, so unmöglich ist das nicht«, widersprach Dr. Sand lächelnd. Da war es also wieder. »Sie bringen jedenfalls achtzig Prozent der Voraussetzungen mit und ich akzeptiere den Gedanken nicht, dass nach mir niemand mehr diese Idee mit den Mahren aufgreift, so absurd sie für das Gros der Wissenschaftler auch klingen mag. Was meinen Sie? Sie haben doch sicherlich vor zu studieren, oder? Und es würde mich sehr wundern, wenn es Literatur oder Musik sein sollte. Sie sind Wissenschaftlerin, Elisabeth!«, rief er so überzeugend, dass ich mich schwer damit tat, ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen.
»Ehrlich gesagt, habe ich im Moment genug damit zu tun, nicht von meinem eigenen Bruder in die Klapse verfrachtet zu werden.«
»Er glaubt Ihnen nicht?«
»Kein bisschen.«
»Dann lassen Sie das Thema ruhen. Reden Sie nicht mehr davon, Sie machen es nur schlimmer. Man kann Menschen nicht dazu zwingen, an etwas zu glauben, was sie nicht sehen wollen. Das hat noch nie funktioniert.«
Dr. Sands Worte hallten immer noch in meinem Kopf nach, als ich mich - diesmal vom Bus - zurück zur Speicherstadt bringen ließ. Zähneknirschend musste ich ihm recht geben. Ich konnte Paul nicht zwingen, es zu glauben. Aber ebenso wenig konnte er mich dazu zwingen, ihm gewisse Dinge zu glauben. Zum Beispiel seine Geschichte mit François.
Im ersten Moment hatte mich die Tatsache, dass Dr. Sand mich für geistig klar und die Existenz von Mahren für möglich hielt, ungemein beruhigt. Hier, in dieser Stadt, nicht allzu weit entfernt, gab es jemanden, mit dem ich darüber sprechen konnte, noch dazu einen Wissenschaftler, dessen Urteil man vertrauen durfte. Dieser Gedanke machte es leichter, die Zweifel in mir zum Schweigen zu bringen.
Aber er hatte auch ein sehr starkes Motiv: den Tod seiner eigenen Tochter. Wenn er meinen Vater für verrückt erklärt hätte und mich dazu, hätte er diesen Schicksalsschlag einfach so hinnehmen müssen, und zwar als das, was andere in ihm sahen: einen tragischen Unfall beim Schlafwandeln oder aber Selbstmord. Er hatte einen Nutzen davon, mich und Papa nicht für verrückt zu halten. So gesehen war es nicht verwunderlich, dass er sich regelrecht in seinen Plan verbissen hatte, mit dem kleinen, aber bedeutenden Unterschied, dass er sich nicht selbst in der Welt der Mahre bewegte. Er befand sich auf sicherem Boden und vermied es, seine Theorien nach außen dringen zu lassen. Denn ebenso wie wir hatte er keine Beweise.
Trotzdem. In mir ruhte unverrückbar und felsenfest die Gewissheit, dass ich nicht meinen Verstand verlor. Ich war bei Sinnen. Und ich würde den Spieß nun umdrehen. Ich würde Paul beobachten -im Beobachten hatte ich wahrlich hinreichend Erfahrung gesammelt in den vergangenen Jahren - und herausfinden, was sein verfluchtes Problem war.
Und danach konnten wir immer noch darüber diskutieren, wer von uns beiden der Beklopptere war.
Superbia
Zeter und Mordio
Da war es endlich - das offene Meer. Ich blieb stehen und wagte kaum zu blinzeln, so berauschend war der Anblick, der sich mir bot. Nicht das kleinste Wölkchen trübte den Himmel, die Luft strich lau über meine Haut, die Sonne wärmte meinen Nacken. Über mir rauschten die Palmwedel im Wind und das Flüstern ihrer Blätter vermischte sich mit dem Auf und Ab der Brandung zu einem fast hypnotischen Brausen, das im Nu alle düsteren Gedanken aus meinem Kopf vertrieb.
Es ist Sommer, dachte ich übermütig. Es ist Sommer, ich bin am Meer und es ist viel schöner,
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