Scherbenmond
als ich es mir je ausgemalt habe ... Mein Gott, ist das schön. Meine Augen schwammen selig im Azurblau des Ozeans und beobachteten ungläubig, wie er mit einem Mal zurückwich - weit zurückwich, viel zu weit. Unverhältnismäßig weit. Schon erhob sich am Horizont die Welle, haushoch und glitzernd und gekrönt von schneeweißer Gischt, und mit ihr erhob sich auch das Schreien der Menschen, die wussten, was sie brachte. Ich wusste es auch. Sie brachte meinen Tod.
Zu lange blieb ich stehen, während alle anderen um ihr Leben rannten, und sah zu, wie die Welle unaufhörlich näher kam und immer höher wuchs, bis ich es endlich schaffte, mich aus meiner Erstarrung zu lösen. Zu spät. Ihr Brüllen und Tosen legte sich über das Flüstern der Palmwedel, schon konnte ich das Salz riechen und all die Gaben des Meeres, die die Welle mit sich führte und mit denen sie uns ersticken würde, uns und die gesamte Insel. Die Sonne verdunkelte sich. Dann schlug die Kälte über mir zusammen.
Ich griff nach vorne, um mich an die Kaimauer zu klammern, gegen die ich mich eben noch gelehnt hatte. Vielleicht konnte ich mich an ihr festhalten, bis das Wasser sich wieder in den Ozean zurückzog, ich musste nur lange genug die Luft anhalten, vielleicht schaffte ich es ... Doch die Macht der Welle riss die Mauer mit mir zu Boden. Noch hielt ich einen Stein in meinen Händen, das letzte Stück dieser Erde, bis das Wasser mir auch ihn nahm, mich mit sich trug und mit erbarmungsloser Gewalt mein Rückgrat zerbrach ...
»Natürlich, die Mauer!«, rief ich und schnellte hoch. Ich war schweißgebadet und nur unter allerhöchster Konzentration gelang es mir, Luft zu holen. Pfeifend atmete ich ein und meine Lungen pressten den Sauerstoff sofort wieder heraus, als hätte ich ihnen zu viel zugemutet, ja, als wollten sie ihn gar nicht. Doch meine Gedanken waren klar.
»Gott, wie konnte ich nur so blöd sein«, schimpfte ich. Noch einmal rang ich nach Luft und diesmal zeigten meine Lungen sich kooperativ. Das Schwindelgefühl, das beim Aufwachen so stark gewesen war, dass ich mich Halt suchend an der Bettkante festgeklammert hatte wie im Traum an der zerberstenden Kaimauer, verebbte.
Der Safeschlüssel! »Du findest ihn in Pauls Mauern«, hatte Papa geschrieben. Ich hatte vermutet, »in Pauls Mauern« sei eine poetische Umschreibung für Pauls Wohnung gewesen. Und Poesie gehörte nicht zu meinen liebsten Hobbys. Ich hatte die Formulierung mit einem Achselzucken abgetan. Doch nun wusste ich, was Papa meinte - und es war so offensichtlich, dass ich mich für meine eigene Begriffsstutzigkeit hätte ohrfeigen können. In Pauls Wohnung gab es tatsächlich eine Mauer - eine Mauer, die im Nachhinein gesetzt worden war, um die Küche vom Wohnzimmer zu trennen und diesen großen Raum etwas gemütlicher zu gestalten. Sie reichte nicht bis zur Decke, sondern endete in der Höhe meines Kopfes. Paul hatte den verbleibenden Platz für eine exquisite Lichtinstallation genutzt. Wahrscheinlich hatte Papa persönlich diese Wand hochgezogen; schließlich hatte er die Wohnung damals eigenhändig renoviert.
Es würde mir wohl nichts anderes übrig bleiben, als sie in Stücke zu hauen, wenn ich den Schlüssel finden wollte. Vielleicht gab es aber auch eine Möglichkeit, durch Klopfen den hohlen Stein zu erlauschen, in dem sich der Schlüssel verbergen musste. Ich widerstand dem Bedürfnis, sofort nachzuschauen, denn ich wollte Paul keinen weiteren Stoff für seine Ellie-ist-bekloppt-Theorie liefern, indem ich an der Küchenmauer stand und Morsezeichen an mein zweites Ich sendete.
Also lehnte ich mich mit dem Rücken an die Wand, ließ das Licht aus und dachte nach. Es war das erste Mal seit einer Woche, dass ich um diese Zeit die Gelegenheit dazu bekam, denn Pauls phlegmatische Lebensweise begann bereits auf mich abzufärben und stimmte mich matt, müde und antriebslos. Genau das, was Paul ausstrahlte. Nach meinem Beschluss, ihn zu beobachten, hatte ich im Internet versucht herauszubekommen, welche Verhaltensweisen ich mir zulegen sollte, um einen zwar geistig angeschlagenen, aber nicht vollkommen verrückten Eindruck zu machen.
Ich wurde rasch fündig - eine depressive Verstimmung war das Beste. Sie bot keinen Grund, mich einzusperren, doch sie würde Pauls Theorie weiterhin nähren, ohne dass er auf den Trichter kam, ich hätte das Zepter in die Hand genommen. Schon beim Durchlesen der gängigen Symptome war mir mit erschreckender Deutlichkeit aufgefallen, dass
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