Scherbenmond
sie eigentlich zu Paul passten. Ja, zu Paul und nicht zu mir. Und das konnte ich genauso wenig glauben wie die Tatsache, dass er hoppladihopp schwul geworden war.
Seine sexuelle Kehrtwende musste sich gleich nach seinem Umzug hierher vollzogen haben. Paul und François kannten sich geschlagene vier Jahre und seit anderthalb Jahren arbeiteten sie offiziell zusammen. Sie hatten sich gemeinsam den Porsche gekauft, fuhren gemeinsam in den Urlaub und sie nächtigten hin und wieder gemeinsam. Zum Glück nicht hier, und bei den drei Malen, die Paul bei François geschlafen hatte, war er irgendwann frühmorgens in die Wohnung gestolpert und hatte bis zum Nachmittag komatös in seinem verdunkelten Zimmer gelegen. Er behauptete, mit François in einem Bett sei es kaum auszuhalten, weil er sich ständig hin und her wälze und ihm die Decke wegreiße, und François behauptete, Paul würde nachts ganze Wälder absägen. Nun, in diesem Punkt musste ich ihm widerwillig zustimmen. Pauls Schnarcherei war eine Zumutung.
Aber ich glaubte auch Paul. Denn François’ Hauptaufgabe in Pauls Leben bestand darin, Hektik zu verbreiten. Entweder scheuchte er Paul am Telefon durch die Wohnung (Paul musste dann irgendwelche Unterlagen oder Abrechnungen oder Preislisten suchen), wobei die beiden meistens anfingen zu streiten und François aus lauter Gereiztheit immer wieder mitten im Gespräch auflegte. (Er behauptete natürlich, die Verbindung sei abgebrochen - François war nie an etwas schuld und hatte immer recht.) Oder aber er stürzte höchstpersönlich zu uns herein und tat ungefähr das Gleiche in Grün, was für mich aber wesentlich unangenehmer war, da François mich geflissentlich übersah oder mich wie üblich mit kalter Verachtung strafte, sobald seine Blicke meinen nicht mehr ausweichen konnten. Ich machte mir während seiner Anwesenheit einen Spaß daraus, blöde Spiele mit seinem Hund zu treiben, was François erst recht in Rage brachte. Doch ich war seiner Konversation nicht würdig und so befahl er mir auch nicht, damit aufzuhören.
François redete allerhöchstens indirekt mit mir - zum Beispiel, wenn Paul mal wieder auf dem Klo hockte, weil er verpennt hatte, und François ihn zur Eile trieb. Dann sprach er in der dritten Person von Paul, ohne mich dabei anzusehen oder gar ernsthaft mit einer Antwort zu rechnen. »Ich habe ihm gesagt, dass wir kaum mehr Zeit haben und der Kunde wichtig ist, ich habe es ihm gesagt!« »Er hat wieder verschlafen, oder? Ach, dass er aber auch nie den Wecker hört!« »Hach, wie er wieder rumläuft und wie er redet! Ich sag es ja, Paul ist der hetischste Schwule, den ich je erlebt habe!«
»Das liegt vielleicht daran, dass er ein Hetero ist«, erwiderte ich frostig, doch François schnalzte nur mit der Zunge und winkte ab.
Ansonsten machte ich mir nicht die Mühe, mit François ein Gespräch anzufangen, obwohl ihn die gleichen Dinge an Paul zu stören schienen wie mich. Der große Unterschied bestand darin, dass François sich über diese Dinge echauffierte, ohne sich Gedanken über ihre Ursache zu machen, und mein Kopf beinahe zu rauchen anfing vor lauter Grübeleien. Inzwischen war es sogar so, dass ich am eigenen Leib die Last zu spüren begann, die Paul mit sich herumtrug - eine unsichtbare, tonnenschwere Last, die ich nicht ignorieren konnte. Ich glaubte schon lange nicht mehr, dass die Geschichte mit Lilly die alleinige Ursache dafür war. Paul hatte sich mir stets als ein Stehaufmännchen präsentiert und ihm war ein beneidenswerter Optimismus eigen. Das war der große Unterschied zwischen uns gewesen: Paul hatte nichts so schnell aus der Fassung gebracht. Er wusste genau, was er wollte, und es kümmerte ihn nicht, was die anderen darüber dachten. Und wenn Plan A nicht funktionierte, fing er eben am nächsten Tag mit Plan B an.
Doch der neue Paul hatte keine Pläne mehr. Er wurde nur noch getrieben - von François. Wenn François in die Wohnung rauschte und Stress verbreitete, kam Leben in Paul und er startete entweder mit François irgendwelche kunstgewerblichen Unternehmungen oder raffte sich und seine unsichtbare Last dazu auf, in seiner Werkkammer einen Rahmen zu basteln. Ich gab es ungern zu, aber ich war François beinahe dankbar für seinen nervenzehrenden Aktionismus, denn Pauls Apathie war schwer zu ertragen und es verschaffte mir eine spürbare Erleichterung, wenn er wenigstens irgendetwas tat. Außerdem begann er in diesen Stunden selbst aufzuleuchten. Aus dem
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