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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Stinkstiefel, der missmutig auf dem Klo hockte oder sich hinter seiner Morgenzeitung versteckte, wurde dann ein chic gekleideter, energetischer junger Mann mit blitzenden Augen und beschwingtem Gang, der zwar schimpfend und streitend, aber immerhin zielgerichtet und in Gesellschaft die Wohnung verließ und mit einem röhrenden weißen Porsche davonbrauste.
    Trösten konnten mich diese Momente dennoch nicht, denn in mir schwelte ein grauenhafter Verdacht - nein, eigentlich war es kein Verdacht mehr. Es war beinahe Gewissheit. Nach wenigen Tagen des Beobachtens hatte ich Paul als depressiv diagnostiziert, ja, schlimm genug - aber das war nicht alles. Ich musste an Dr. Sands Hinweis während unseres Gesprächs in der Klinik denken. Ich sei Wissenschaftlerin, hatte er gesagt. Ich könne logisch denken. Und genau dieses logische Denken verbot mir, meine Schlussfolgerungen zu ignorieren, auch wenn sie noch so erschreckend waren.
    Denn Paul war nicht nur depressiv. Nein, hinzu kamen merkwürdige Verhaltensweisen, die ich in gar kein Schema einordnen konnte.
    Wie so oft listete ich sie im Geiste auf und bemühte mich, plausible Gründe dafür zu finden - andere Gründe als den einen, grausamen, den ich die ganze Zeit schon fürchtete.
    Punkt 1: sein Essverhalten. Es war durchweg verstörend. Paul aß dauernd und er tat es wie nebenbei, ja, beinahe ferngesteuert und absolut gedankenlos. Er aß nicht aus Hunger - niemand war hungrig, wenn er gerade drei Teller Chili con Carne mit Reis heruntergeschlungen hatte -, aber als Kummerfressen konnte man es auch nicht bezeichnen, denn es stimmte ihn nicht glücklicher.
    Nach dem Essen griff er in regelmäßigem Wechsel nach Salzstangen, Schokolade, Salzstangen (seine Begründung: nach süß brauche er etwas Salziges), dann einem Schnäpschen, einem Schluck Wein, wieder Schokolade. Außerdem schien ihm das Empfinden von Kälte und Hitze abhandengekommen zu sein. Er konnte siedend heißen Kaffee trinken und in ein Eis hineinbeißen, ohne zu zucken. Was fühlte er überhaupt noch?
    Ähnlich verhielt er sich beim Fernsehen. Punkt 2: Medienkonsum. Paul zappte, doch er guckte nicht. Ich musste dabei oft aus dem Raum gehen, um nicht auszurasten, weil er keinen Sender länger als drei Minuten angeschaltet ließ, geschweige denn zu reflektieren schien, was da überhaupt lief. Und das war schon eine Rekordzeit.
    Punkt 3: Konsumverhalten. Wenn er sich etwas Neues kaufen wollte - das tat er oft und am liebsten übers Internet -, verbrachte er Stunden, manchmal Tage damit, sich die Bewertungen der Produkte in Foren durchzulesen und zu vergleichen, mit dem Ergebnis, dass er irgendwann kaum mehr fähig war, eine Entscheidung zu fällen. Er kaufte trotzdem, aus purem Frust, und meistens kam es in defektem Zustand an. In all seinem Handeln lag eine gequälte, unlustige Fahrigkeit, die mich mit in den Abgrund zog, sofern ich nicht ab und zu aus der Wohnung türmte und im Marschschritt die Speicherstadt durchquerte.
    Punkt 4: körperliche Verfassung. Das war das dramatischste Verdachtsmoment. Paul war immer müde und schlapp. Das Einzige, was ihm geblieben war, waren seine schlummernde, athletische Kraft, die ruhigen Hände und seine bemerkenswerte Reaktionsgeschwindigkeit. Reagieren konnte er blitzschnell, aber sein Agieren war eine Katastrophe. Von sich aus unternahm er nichts. Und Sport trieb er auch nicht. Angeblich machten seine Bronchien nicht mit.
    Nur einmal am Tag hörte ich sein lautes, herzhaftes Lachen von früher, in das ich einstimmen musste, ganz gleich in welcher Stimmung ich mich befand: wenn auf Pro7 Die Simpsons liefen. Dann setzte ich mich dazu, lachte mit ihm und bildete mir für zweimal dreißig Minuten ein, alles sei so wie früher. Aber das war es nicht.
    Das hier war keine typische Depression. Es war eine Wesensveränderung. Paul wurde jemand anderes. Sein wahres Ich verschwand. Ich konnte dabei zusehen. Etwas Totes hatte sich in ihm breitgemacht - eine gähnende tiefschwarze, sumpfige Leere.
    »Nun sprich es schon aus«, murmelte ich vor mich hin. »Sprich es aus.« Doch ich konnte es nur denken und selbst das war schwer genug. Es war nur ein Wort. Ein Wort, das für mich früher völlig bedeutungslos gewesen war. Seit vergangenem Sommer aber löste es ein inneres Beben aus, das mich bis in meine Träume verfolgte. Zwei Silben, die über die Seele eines Menschen entschieden: Befall.
    Ja, ich war mir so gut wie sicher, dass Paul befallen worden war. Ich glaubte nicht, dass es

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