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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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noch geschah - oder redete ich mir das nur ein? Nein. Paul hatte erwähnt, dass er extrem wenig träume, und wenn, könne er am nächsten Morgen nicht einmal sagen, was ihm nachts widerfahren war. Von Colin wusste ich, dass die Mahre von ihrem Opfer abließen, sobald die Nahrung minderwertig wurde. Dann suchten sie sich einen neuen Wirt und die Menschen hatten mit den Folgen des Befalls zu kämpfen, ohne zu wissen, was eigentlich mit ihnen geschehen war. Wenn Paul keine Träume mehr hatte, war der Befall schon vorüber. Das zumindest redete ich mir ein. Ein echter Beweis war es nicht.
    Außerdem träumte ich selbst nach wie vor lebhaft. Es waren zwar regelmäßig Albträume dabei (fast immer ertrank ich oder wollte etwas zu fassen kriegen, was mir in letzter Sekunde aus den Händen glitt), aber auch sehr schöne Träume. Zu schöne. Mich an sie zu erinnern tat weh, und obwohl ich in ihnen Glück empfand, wachte ich weinend auf. Denn ich wusste, dass sie nicht wahr werden würden. Und ich brauchte Stunden, um mich von ihren Nachwehen zu befreien; Stunden, bis ich wieder die Augen schließen konnte, ohne Colins funkelnden Blick in der Schwärze hinter meinen Lidern und seine kühlen Hände auf meiner Haut zu fühlen. Es waren andere Träume als früher, in den ersten Wochen unseres Kennenlernens. Sie gingen weiter - weiter als all das, was wir jemals getan hatten. Und doch nicht weit genug. Es waren einzelne wunderschöne Scherben, matt glänzend wie silbriger Mondstein, und ich sehnte mich danach, sie zusammenzufügen, um das Mosaik betrachten zu können, das sie ergaben. Es fühlen zu können.
    Derartige Träume mussten ein Festessen für einen Mahr sein und Mahre waren gierig. Er hätte sie sich genommen, wenn er sie gewittert hätte. Trotzdem konnte ich nicht zu hundert Prozent sagen, dass Pauls Befall Vergangenheit war, und deshalb hatte ich mir vorgenommen, Berta nachts wieder stärker ins Visier zu nehmen. Bisher hatte sich das schwierig gestaltet, weil ich nicht wach geworden war. Ich schlief wie ein Stein. In den Abendstunden jedenfalls hatte sie stets einigermaßen normal gewirkt - missmutig und desinteressiert, aber für ihre Verhältnisse umgänglich. Kein Zittern und Beben, kein Springen gegen den Terrariendeckel.
    Außerdem hatte ich versucht, eine Ratte einzufangen. Am Wandrahmsfleet wimmelte es von Ratten und vielleicht gaben sie mir Aufschluss über die Anwesenheit eines Mahrs. Immerhin waren Ratten für ihren guten Instinkt bekannt - war es da nicht möglich, dass sie Schwingungen empfingen, die mir entgingen? Doch kaum hatte ich ein besonders fettes Exemplar in die Wohnung gelockt und mich mit Pauls dicken Arbeitshandschuhen und gellendem Kriegsgeschrei auf sie gestürzt, war Paul mir dazwischengekommen - den kreischenden François im Gepäck - und hatte das Vieh aus dem Haus getrieben. Den Käfig, den ich bereits vorbereitet hatte, kickte ich mit dem Fuß rasch unters Bett, aber an Pauls Gesichtsausdruck konnte ich sehen, dass er ihn sehr wohl registriert und ihm nur ein weiteres Verdachtsmoment geliefert hatte.
    Doch jetzt herrschte tiefste Nacht - ich schätzte, dass die Geisterstunde lange verstrichen war - und ich sollte die Gelegenheit nutzen, einen Blick auf Berta zu werfen. Das Problem war nur, dass ich überhaupt keine Lust dazu verspürte. Ich hatte Angst. Denn was zum Henker sollte ich tun, wenn sie sich wie eine Irre aufführte und ich davon ausgehen musste, dass genau in diesem Moment im Zimmer nebenan ... ? Ich wollte den Gedanken gar nicht erst zu Ende führen. Aber Paul war mein Bruder. Und ich konnte ihn nicht den Fängen eines Mahrs überlassen. Ich wusste zwar nicht, was ich gegen einen Mahr ausrichten wollte, der sich an Pauls Träumen labte, doch die Augen davor zu verschließen war auch keine Lösung. Außerdem, versuchte ich mich zu ermuntern, war die Wahrscheinlichkeit ja nur sehr gering, dass er Paul noch befiel. Oder sie? Tessa? Eine infame Variante familiärer Rache?
    Meine klammen Finger suchten nach dem Lichtschalter. Im nächsten Moment kniff ich geblendet die Lider zusammen, überzeugt, dass ich mich getäuscht hatte und vor lauter Flimmern nichts erkennen konnte. Doch es war keine Täuschung. Bertas Terrarium war leer. Und der Deckel stand ein winziges Stück offen.
    Wie ein Soldat beim Bombenangriff wälzte ich mich aus dem Bett, sprang auf meine Beine, streifte mir hysterisch das Nachthemd über den Kopf, schüttelte meine Haare aus und floh gleichzeitig rückwärts

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