Scherbenparadies
machte Platz für ein paar coole Ideen. Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und sah aus dem Fenster. Graue Wolken lagen über dem Viertel wie eine Depression.
8
Als Sandra kurz nach eins die Grundschule erreichte, saß Vanessa auf einer der Bänke in der Fensternische und wackelte unruhig mit den Füßen. Neben ihr wartete ihre Klassenlehrerin, Irene Raith.
Vanessa sprang auf, sobald sie Sandra entdeckte, und lief auf sie zu. Auch Irene Raith erhob sich. Das sah nach Ärger aus. Für heute habe ich schon genug davon gehabt, dachte Sandra. Mehr muss jetzt eigentlich nicht sein.
»Hallo Sandra.« Es klang eisig. Die Lehrerin verschränkte die Arme vor der Brust. Ihre weißblond gefärbten Haare hatten einen streichholzkurzen Schnitt. Ihr Teint war blass, die Augen wasserblau. Der einzige Farbklecks in diesem farblosen Gesicht waren die rot geschminkten Lippen.
Vanessa schmiegte sich an Sandra.
»Hättest du die Güte, deiner Mutter auszurichten, sie soll Vanessa künftig ausreichend Brotzeit mitgeben. Sie hat heute die Breze einer Klassenkameradin gestohlen. So geht das nicht.« Während Frau Raith sprach, stieg eine Augenbraue in die Höhe.
»Ich hab so einen Hunger gehabt«, flüsterte Vanessa mit piepsiger Stimme. Sie schämte sich. So wie Sandra sich schämte. Das Blut stieg ihr in die Wangen, sie wich dem Blick der Lehrerin aus und sah zu Boden. »Ich sage es ihr«, brachte sie hervor, bevor sie Vanessa an die Hand nahm und die Schule verließ.
Verdammt, Laura! Auf dem Gehweg lag eine Coladose. Wütend trat Sandra dagegen. Scheppernd schlitterte die Büchse über Schneematsch und Asphalt und donnerte gegen eine Litfaßsäule. Der Druck von Vanessas Hand verstärkte sich. Ihre Stimme war ganz leise. »Ich wollte das doch nicht. Aber ich hatte so einen Hunger und die Breze hat so lecker gerochen und da ist meine Hand von ganz allein…« Vanessa begann zu weinen. Lautlos liefen die Tränen.
In Sandra schob sich alles zusammen, als wollte eine unsichtbare Hand sie zerquetschen. Das war passiert, weil sie ihrer Mutter scheißegal waren, und sosehr Sandra sich auch bemühte, sie zu ersetzen… es gelang ihr nicht… sie schaffte das nicht. Sie ging in die Hocke und nahm Vanessa in den Arm. »Morgen gebe ich dir so viel Brotzeit mit, dass du platzen wirst, wenn du alles isst. Versprochen.«
»Aber der Kühlschrank ist doch ganz leer.«
»Ich gehe einkaufen.«
»Auch Schokolade?«
»Auch Schokolade.«
»Versprochen?«
Sandra legte die Hand aufs Herz. »Versprochen ist versprochen und wird auch nicht gebrochen.« Auch wenn sie keine Ahnung hatte, wie sie das schaffen sollte.
Ein Lächeln schlich sich auf Vanessas Gesicht. Sandra wischte ihr die letzten Tränen von den Wangen.
Weshalb musste man ständig etwas essen? Weshalb gab es keinen Trick, mit dem sich der Hunger abstellen ließ, oder einen Sparmodusschalter für den Kalorienverbrauch? Müßige Fragen. Es war nichts zu essen da und Vanessa war hungrig. Es gab nur eine Möglichkeit. Sandra entschloss sich zu einer kleinen Lüge. »Ich muss heute Nachmittag etwas erledigen und bringe dich jetzt zu Ayshe. Okay?«
Ein Strahlen war die Antwort. »Logo ist das okay.«
Im Hausflur nahm Sandra die Post aus dem Briefkasten, bevor sie mit dem Lift nach oben fuhren und bei der Familie Öczan klingelten. Ayshes Mutter öffnete. Sie war eine rundliche Frau, die Jeans und Sweatshirt trug und eine Ruhe ausstrahlte, die sich sofort auf Sandra übertrug. Ein köstlicher Duft nach Mittagessen zog in den Flur. Natürlich war Vanessa willkommen. Wie immer. »Du kannst mit uns essen und dann macht ihr Mädchen Hausaufgaben.« Ayshes Mutter half Vanessa, Jacke und Handschuhe auszuziehen.
Ihre kleine Schwester konnte heute also wieder einmal bei Öczans essen. Sandra war dankbar für diese unermüdliche Gastfreundschaft und schämte sich gleichzeitig, dass sie sie so ausnutzte.
»Was ist eigentlich mit eurer Mutter? Ist sie krank? Ich habe sie schon länger nicht gesehen.« Die Frage galt Sandra.
»Sie macht einen Kurs. Die Arbeitsagentur hat darauf bestanden.« Schon wieder log sie für Laura. Eilig verabschiedete Sandra sich.
Unten in der Wohnung angekommen, zog sie die feuchten Chucks von den Füßen, stellte sie im Bad auf den Heizkörper und schlüpfte in dicke Socken. Sofort fühlte sie sich besser.
Den zweiten Schokoriegel von Monika Brettschneider hatte sie für mittags aufbewahrt. Während sie in der kostenlosen Wochenzeitung, die sie aus dem Briefkasten
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