scherbenpark
erzählt, dass sie bei sich früh die ersten grauen Haare entdeckt hatte. Mit dreißig hatte sie schon graue Strähnen. Sie hatte ein Leben, von dem man früh grau wird. Mit Henna waren es dann die hellen orangefarbenen Stellen. Die Augen waren hellbraun und groß. Der Mund auch groß, und beides war meistens weit offen – die Augen wie der Mund. Sie hat viel gesprochen und gelacht. Selbst wenn sie gelesen hat, hat sie geredet. Erschien immer wieder mit dem Buch in der Hand vor mir und sagte: ›Soll ich dir was vorlesen? Hier ist eine saugute Stelle.‹ Und ich antwortete: ›Ich mach doch gerade Hausaufgaben.‹ Oder: ›Ich versuche gerade selber, was zu lesen.‹ Sie las mir die Stelle trotzdem vor, und ich habe nie verstanden, was daran so gut sein sollte. Ich habe nie richtig zugehört,weil es mir lästig war und ich lieber in meine eigenen Gedanken versunken war.«
Ich lese den Text noch mal durch. Ich weine nicht.
Ich gehe ganz früh ins Bett.
Morgens ziehe ich mir, die Augen noch geschlossen, die Turnschuhe an. Maria schnarcht laut in ihrem Bett, und als ich die Tür zu ihrem Zimmer zumache, damit sie die Kinder nicht weckt, sehe ich an ihrer Seite, halb unter der ausladenden Hüfte begraben, die kleine Alissa im selbst genähten geblümten Nachthemd. Die Erinnerung an den pinkfarbenen Pullover schießt durch meinen Kopf, und ich beschließe, irgendwas in Sachen Kleiderordnung zu unternehmen.
Maria hört ja auf mich.
Ich jogge dreimal um den Solitär und biege danach ab. Das Laufen fällt mir schwer. Ich habe es lange nicht mehr gemacht und hätte es auch heute gelassen, wenn mich nicht ein übles, ziehendes Gefühl aus dem Schlaf gerissen hätte. Ich versuche, diesem Gefühl wegzurennen, bekomme aber nur Seitenstechen. Also drücke ich mir die Hand unter die Rippen und bleibe keuchend vor dem Zeitungskiosk stehen.
Seit einem Jahr habe ich ein Abo der lokalen Tageszeitung. Ich weiß: Sollte der Solitär abgerissen werden, würde es Maria vermutlich erst mitkriegen, wenn man sie auf ihrem Stuhl aus der Wohnung trägt. Außerdem lohnt sich das Zeitunglesen oft für die Schule.
Ich betrachte die Überschriften der Tageszeitungen, mehr aus Pflichtgefühl denn aus ehrlichem Interesse.
Ich frage mich, wer hier so etwas kauft. Manchmal fühle ich mich wie die einzige Alphabetin im Solitär.Alle anderen tragen halb leere Flaschen in den Taschen ausgebeulter Trainingshosen, wickeln den Räucherfisch in bunte Zeitungen mit den Überschriften »Wem gehört der abgetrennte Kopf?« oder »Ministerium vertuscht schon wieder eine Ufo-Landung« und blicken misstrauisch, wenn sie auf Deutsch angesprochen werden. »Kann der nicht normal reden?« fragen sie sich dann.
An diesem Morgen bleibt mir das Herz stehen, nur kurz, um schnell wieder anzuspringen und hoch in die Kehle zu rutschen und dort loszuzappeln wie ein Vogel in der Falle. Ich schnappe nach Luft und versuche zu schlucken, um das Herz an seinen rechtmäßigen Ort zurückzudrücken.
Dabei gehe ich näher ran und lese die Kästchen, in denen eine große Frankfurter Zeitung die Themen des Tages ankündigt. Unter »Lokales« lese ich: »Besuch beim Doppelmörder Vadim E. – ›Die Reue zerreißt mein Herz.‹«
Sein Herz, mein Herz, denke ich. Vielleicht wäre es eine schöne Idee, ihm dieses Organ aus der Brust zu reißen und aufgespießt irgendwo auszustellen. Eigentlich ekle ich mich leicht. Ich sehe nicht gern zu, wenn Maria ein Huhn ausnimmt und mir erklärt, dass man das Hinterteil abschneiden muss und dass das mit den Eiern der Eierstock ist. Und wenn man so einen abgetrennten Hühnerfuß hält und an der Sehne hier vorne zieht, dann macht die Kralle eine Faust, was ist daran eklig, Schätzchen?
Aber für diese Sache würde ich über meinen Schatten springen.
Die Jogginghose hat keine Taschen. Auch an der Jacke rutschen die Finger ins Leere. Andernfalls würde der Wohnungsschlüssel auch nicht um meinen Hals baumeln und klimpern wie eine Kuhglocke.
Ich muss sofort, auf der Stelle, unverzüglich lesen, was in dieser Zeitung steht. Bis ich nach Hause gegangen bin und Geld geholt habe, hat die Welt fünfmal Zeit unterzugehen.
Ich sehe rüber zu dem Fenster im zweiten Stock des Solitärs, aus dem normalerweise ein Glatzkopf ragt, und aus dessen Mundwinkel eine angespeichelte, nicht angezündete Zigarette.
Das Fenster ist leer. Es ist noch ganz früh, und jeder vernünftige Mensch, wenn er denn schon wach sein muss, kocht sich im Moment Kaffee. Oder
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