scherbenpark
zusammen und steige die Treppe hoch. Vorsichtig schließe ich die Tür auf und ziehe die Schuhe aus. Für einen Augenblick glaube ich, ein Gespenst zu sehen, aber das ist nur Maria in ihrem wallenden Nachthemd, das aus dem gleichen Stoff ist wie Alissas.
Maria näht nämlich auch, habe ich das schon erwähnt?
Sie erschrickt bei meinem Anblick.
»Bist du hingefallen?« fragt sie und blinzelt angestrengt in mein Gesicht. Ihr eigenes ist verquollen und blass wie Hefeteig. Die Wangen zittern, wenn sie sich bewegt. Im Haar sind rosa und blaue Lockenwickler.
Eine Traumfrau.
»Guten Morgen«, sage ich und gehe mit meiner Zeitung an Maria vorbei ins Bad.
Ich werde ihr kein Wort darüber sagen. Sie hat Vadim mir gegenüber nie erwähnt. Das ist sehr weise von ihr. Ich weiß, dass sie sich kaum gesehen haben. Sie war höchstens einmal bei uns gewesen in der ganzen Zeit, als wir noch in Moskau waren. Ich weiß nicht, was sie von ihm hält, und ich will das auch nicht wissen.
Ich habe mich nie gefragt, wie sie meinen Plan finden wird. Habe mir nie Gedanken darüber gemacht. Wahrscheinlich möchte ich einfach glauben, dass sie seufzend, aber ohne Widerrede mithilft, die Sauerei wieder wegzumachen, bevor die Kinder kommen.
Sie wird verstehen, dass noch mehr Blut für ihre Entwicklung nicht förderlich ist.
Ich will auch sicher sein, dass sie sich bei der Erziehung an meinen Katalog hält, während ich im Gefängnis sitze. Wo mich dann vielleicht Susanne Mahler besucht und darüber dichtet: »Sascha N. macht einen ausgeglichen Eindruck. ›Ich würde alles noch mal so machen‹, sagt sie im Gespräch mit dieser Zeitung. ›Wenn ich es schon nicht geschafft habe, Vadim vor fünf oder zehn Jahren zu vergiften . . .«
Der Erziehungskatalog wird von mir regelmäßig ergänzt. Derzeitiger Stand ist wie folgt:
Punkt: Ihr hattet die beste Mutter aller Zeiten, und sie lebt in euch weiter.
Dass Vadim euer Vater ist, ist ein großes Missverständnis. Sascha glaubt, dass ihr nicht von ihm abstammt, sondern von dem Piloten, der ein Stockwerktiefer gewohnt hat, ein wunderbarer und gut aussehender Mann. Deswegen seid ihr so hübsch.
Lest alles, was ihr in die Finger bekommt. Das hat eure Mutter auch getan.
Lernt alles, worauf ihr Lust habt, und noch mehr. Verzweifelt nicht, wenn etwas nicht klappt. Ihr könnt so viel.
Auch wenn Maria gern das Gegenteil sagt – es ist egal, was die Leute auf der Straße von euch denken. Zieht euch an, wie ihr wollt, färbt euch die Haare blau, wenn ihr es hübsch findet, und benehmt euch auch so.
Singt viel.
Hütet euch vor Menschen, die sich schwach fühlen, denn vielleicht werden sie sich eines Tages mal stark fühlen wollen, und ihr werdet euch nie wieder davon erholen.
Glaubt an keine Schreckensszenarien wie in Punkt 7, auch wenn Maria täglich den Weltuntergang vorhersagt. Seid mutig und verrückt und reist in jedes Wunderland, das sich euch öffnet – wie jenes Mädchen aus dem berühmten englischen Märchen, Alissa, nach dem dich deine Mutter genannt hat.
Denkt manchmal an eure große Schwester Sascha. Besucht sie nicht im Gefängnis, das ist nicht gut für die Psyche.
Ihr seid keine armen Waisenkindchen, denn eure Mutter ist unsterblich. Das weiß auch Maria.
Und dann erfahre ich, dass ich nichts weiß – über Maria.
An diesem Tag verlasse ich zwei Stunden zu früh das Schulgebäude, weil ich nicht mehr kann. Ich fühle mich seit Tagen wie in einem dichten grauen Nebel. Ich kann die Welt um mich herum gut erkennen, aber sie hat keine Farben. Ich habe keine Lust, genauer hinzusehen.
Ich höre schlecht, genauer gesagt, höre ich nicht hin, und die Stimmen um mich herum verschwimmen zu einem klingenden, rauschenden Gewirr. Ich reagiere nur auf hohe Kinderstimmen. Ich schaue mich dann immer um, um auszuschließen, dass es Anton oder Alissa sind. Zu Hause liege ich meist im Bett.
Ich habe zwei Klausuren versiebt – Geschichte und Mathe. Beide Lehrer kamen nach der Stunde zu mir und sagten, dass sie die Klausuren bei den Halbjahresnoten nicht berücksichtigen werden. Ich habe nicht gleich verstanden, was sie meinten, denn ich hatte beide Hefte noch gar nicht aufgeschlagen.
Ich habe die Lehrer nicht angeguckt. Ich mag diese Augen nicht. Noch mehr Augenpaare, die mich besorgt und mitleidig mustern. Die mich verfolgen, wenn ich weggehe. Ich will das nicht.
Ich will unsichtbar sein, aber das hätte meine Mutter nicht gut gefunden. Sie hat immer gesagt, man muss einen Menschen sehen, hören und
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