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scherbenpark

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Titel: scherbenpark Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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einen zweiten.
    Mein einziger Gedanke gilt der Freude darüber, dass Ingrid und Hans nicht sehen, wie ich die Zeitung herausziehe, zusammenrolle und unter meine Jacke stecke.
    Im Treppenhaus falte ich sie wieder auseinander und suche den Artikel über die Leiden des nicht mehr ganz so jungen Vadim E.
    Das Erste, das mir ins Auge springt, ist der Name – Susanne Mahler. Das ist die Autorin. Erst danach sehe ich die Fratze, bei deren Anblick mir vor Augen schwarz wird.
    Ich lehne den Kopf gegen die schmutzig grüne Wand. Etwas höher prangt eine Kritzelei, die mit Liebe zum Detail zwei kopulierende Männer zeigt. Mein Hinterkopf landet genau auf der Unterschrift »Tunten gehörenmitten durchgerissen«. Ich mache ein paar Atemübungen. Danach sehe ich wieder hin.
    Er sieht unverändert aus. Derselbe Schnauzbart, dieselben dunklen Augen und die niedrige Stirn und die tiefen Falten, die von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln führen. Das hässlichste Gesicht, das ich je gesehen habe, und noch schlimmer macht es der klägliche Ausdruck, der sich in diesen Falten festgesetzt hat. Die Mundwinkel hängen, die Augen blicken bettelnd, und die leicht gelockten Haare stehen wirr ab. Armer Vadim. Bellt, aber beißt nicht, es sei denn, man ist so gemein und reizt ihn. Dann schnappt er natürlich zu, da ist man dann selber schuld, wenn man ihn ärgert. Aber wenn du dich zu benehmen weißt, ist er voll der Nette.
    Wieder verdunkelt sich alles bei mir, und diesmal muss ich länger atmen, bis sich die Düsternis lichtet.
    Mit dieser jämmerlichen Grimasse ist er wahrscheinlich damals bei meiner Mutter gelandet, denke ich. Bei ihr, der mitleidigen Seele. Sie hat jeden gestreichelt, der sie so von unten angeguckt hat. Übrigens auch jeden Hund, und niemals hat einer sie gebissen.
    Bloß bei Vadim hatte sie sich bös verschätzt. Wie konnte sie so dumm gewesen sein? Hat sie ihm nicht gleich angesehen, was für ein Monster er ist?
    »Er war früher anders«, hat meine Mutter mir einmal gesagt. »Nicht so reizbar und schwach. Du weißt doch, es ist richtig schlimm geworden, seit er hier den ganzen Tag vor dem Fernseher sitzt und fast nichts versteht.«
    »Ich weiß genau, wie er früher war. Nicht wirklich besser.«
    »Das ist jetzt unfair.«
    »Und der? Ist der fair?«
    »Es geht ihm nicht so gut, das siehst du doch.«
    Fürchte diejenigen, die sich schwach fühlen, denke ich einmal mehr. Denn es kann sein, dass sie sich eines Tages stark fühlen wollen und du dich nie wieder davon erholen wirst. Vielleicht ist es ein guter Gedanke für meine Datei, die ich »Marina« nennen werde. Den Text vom Vorabend hatte ich gleich gelöscht.
    Ich werde das Gefühl nicht los, dass Susanne Mahler Vadim E. ein bisschen streicheln will.
    Ich muss den Artikel ein Dutzend Mal lesen. Danach verstehe ich ihn immer noch nicht ganz. Einzelne Sätze schneiden sich in mein Gehirn und vermischen sich mit den anderen. » Ich liebe sie immer noch. Ich wünschte, ich könnte es ihr sagen. Ich schreibe einen Brief an sie. Der hat schon zwanzig Seiten, und das Wichtigste ist immer noch nicht gesagt. Ich schäme mich fürchterlich vor meinen Kindern. Es tut mir auch sehr leid um diesen Jungen, der da sterben musste .«
    Dein ist hier nur die Gefängniszelle, Vadim, flüstere ich. Ich glaube nie im Leben, dass du das alles selber gesagt hast. Oder hat Susanne Mahler einen Dolmetscher mitgebracht, der ähnlich kreativ übersetzt wie ich bei Maria?
    »Ich bin ein anderer Mensch geworden. Selbst mein Deutsch wird immer besser.«
    Susanne Mahler scheint gerührt. Sie hat sich Vadims Zeichnungen angeguckt, er hat versucht, das überirdisch schöne Antlitz seiner Frau festzuhalten. Seiner Ex-Frau, um genau zu sein. Die er leider umgebrachthat, das hätte er vielleicht besser nicht tun sollen.
    »Die Zeichnungen sind nicht professionell, aber ausdrucksstark« , notiert Susanne Mahler.
    Und in mir zittert alles vor hilfloser Wut.
    Vadim würde den Brief an seine Frau gern jedem zeigen, der daran Interesse hat. Susanne Mahler hat die vollgeschriebenen Seiten in den Händen gehalten, leider kann sie kein Russisch.
    Die Schrift sei fahrig, ungleichmäßig, aufgeregt.
    Vadim hat noch viele Jahre Zeit, weiterzuschreiben. Ich beginne zu lachen. Vadim schreibt über meine Mutter. Wir sind Konkurrenten.
    Ich fände es besser, er würde sich lieber selbst umbringen. Oder vielleicht auch nicht. Ich will auch mal was Schönes machen in meinem Leben.
    Ich falte die Zeitung, rolle sie

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