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scherbenpark

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Titel: scherbenpark Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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Ich komme näher und sehe zu, wie jemand Grigorijs Augenlid hochzieht und konzentriert hineinblickt und wie zwei Frauen sich streiten, unter welcher Nummer man hier den Notarzt ruft, die Versammlung ist aber eigentlich dagegen – »der hat ja bestimmt wieder vier Promille!« –, und sie haben immer noch Angst vor Ausnüchterungszellen.
    Ich will auch etwas sagen, aber Vera aus dem fünften Stock (gelernte Ingenieurin, derzeit Wahrsagerin im Hauptberuf, ziemlich klein, schwarze Locken, Solarium-Bräune) stellt sich mir entschieden in den Weg.
    »Geh mal schön weiter«, sagt sie. »Und lass ihn in Ruhe!«
    »Was?« frage ich ratlos. »Was soll ich?«
    »Ihr habt hier schon genug Unheil angerichtet«, sagt sie. »Hau einfach ab, meine Goldene, ja? Geh hübschvorbei, sag nichts, sprich uns nicht an, lass unsere Männer in Frieden, lass unsere Jungs in Frieden . . .«
    ». . . ich? In Frieden? . . .« frage ich, aber sie lässt sich nicht aus dem Takt bringen.
    »Und wenn du eine wirklich gute Tat vollbringen willst«, fährt sie mit schrecklich freundlichem Lächeln fort, »eine christliche Tat, dann zieh mit deiner ganzen Sippe aus, dann werden wir auch wieder ruhig schlafen können, aber bitte möglichst weit weg, ja, gut?«
    »Wie?« frage ich und sehe auf ihre kleine Hand mit sechs schweren Ringen, die mich beiseite schiebt, und es ist diese beiläufige Bewegung, von der es in mir wieder zu blinken, zu rasen und zu klopfen beginnt. Anscheinend merkt sie das, denn sie zuckt zurück und hebt warnend die Hand.
    »Na, na«, sagt sie, und alle sehen mich an, während Grigorij sich unbeobachtet auf die Seite dreht, die Hand unter den Kopf schiebt und einzuschlafen scheint, wobei es tief in ihm pfeift und röchelt.
    »Geh schön weiter«, wiederholt Vera aus sicherer Entfernung. Und nur das plötzliche doppelte Weinen der zweijährigen Zwillinge Heinrich und Franz aus dem siebten Stock hält mich davon ab, meine Hände auf der Stelle um den Hals dieser Frau zu legen.
    »Okay«, sage ich. »Dann gehe ich weiter.«

Ich springe auf den glühenden Asphalt, auf dem es im Moment kein Mensch aushält. In die pralle Sonne. Es brennt durch die Schuhsohlen.
    Aber die Hitze kriegt mich nicht.
    Mir ist kalt.
    Links vom Eingang wird gerade ein Mäuerchen um einen Vorgarten errichtet. Ein Drittel steht schon. Im Vorgarten sollen nächstes Jahr die Tulpen blühen. Das hat der Hausmeister Maria erklärt, als sie sich wunderte, dass ein Haufen Steine auf dem Bürgersteig liegt und den Weg versperrt und dass Alissa mit ihrem Roller auf die Straße ausweichen muss.
    Ich nehme einen Stein in die Hand, er ist wunderbar schwer. Ich wiege ihn in meinen Fingern. So einen Stein auf Vadims Kopf – das wäre toll gewesen. Der Schädel wäre geplatzt wie ein rohes Ei.
    Zu spät.
    Ich hole aus und werfe den Stein. Aber er schafft es nicht bis ans Fenster. Ich bin zu ungeübt im Werfen.
    Sport ist das einzige Fach, in dem ich eine Zwei habe.
    Ich nehme einen kleineren. Diesmal klirrt es.
    Ich verharre fasziniert.
    Das Fenster zerbricht in tausend glitzernde Scherben. Einen Bruchteil des Augenblicks hängen sie in der Luft, ein großes schwereloses Kunstwerk, dann stürzen sie auf den Asphalt, wo sie in noch kleinere Stücke zerschellen.
    Ich werfe den nächsten. Ich werfe ihn höher, jetzt ist das Fenster im ersten Stock dran. Ich treffe, wenn auch knapp. Diesmal scheppert es nicht so schön, es ist ein ziemlich hässliches Loch. Ich suche mir einen neuen Stein aus, ich tue es gründlich, es muss schließlich passen.
    Ich werde immer besser. Die Fensterscheibe stürzt herunter.
    Ich habe das Gefühl, schon lange zu werfen, und keiner kommt.
    Ich werfe noch zwei Steine, bis ein erster Schrei ertönt. Dann fliegt die Eingangstür auf, Menschen stürmen heraus, ich ziele mit einem Stein auf sie, und stürzen sofort zurück, es ist ein ziemliches Gedränge, und knallen die Tür zu.
    Ich muss lachen.
    Alle haben Angst vor Sascha!
    Langsam tun mir die Muskeln weh. Ich habe dem Solitär ein Dutzend Augen ausgeschlagen. Aber er hat Hunderte.
    Ich habe noch viel vor.
    Ich sehe Valentin um die Ecke biegen, er ist verschwitzt, sein Gesicht verzerrt und rot, die Haare stehen ab, er rennt auf mich zu, ich hole aus. Er duckt sich und verschwindet wieder um die Ecke.
    Ich kann nicht erkennen, wer von der anderen Seite kommt, er versteckt sich, sobald ich mich umdrehe.
    Ich beginne zu schwitzen, schlagartig, am ganzen Körper. Mein T-Shirt klebt am Rücken.
    Ich

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