Scheunenfest: Ein Alpen-Krimi (Alpen-Krimis) (German Edition)
doch nichts als Humbug. Schon eine Renate Schmid hatte einen nie wiedergutzumachenden Makel: Sie kam nicht aus Unterammergau. Echten Wert hatten nur die Familien, die aus dem Dorf stammten und auch innerhalb des Dorfs heirateten. Wo man die Gene bewahrte und kreiseln ließ und mit der Weisheit von fünfhundert Jahren Inzucht seine Stammtischparolen ausstieß. Dabei war Ugau im Vergleich zu anderen Orten vermutlich noch weltoffen zu nennen. Irmi hätte da jede Menge andere Beispiele gewusst, hier und in den Nachbarlandkreisen, vor allem dort, wo es kaum Tourismus gab. In Bayern bedeutete Migrationshintergrund bereits die Migration aus dem Nachbardorf.
»Angeheiratet« war immer schon ein Billett für die zweite Klasse, und komplett »zuagroast« bedeutete Güterwaggon, wenn überhaupt. Da kauften diese Großstädter Höfe und Häuser und wollten ein Stück vom Landleben abhaben? Eingekauft hatten die sich – und auch wenn keiner der Einheimischen die Bude hätte haben wollen, so ging es doch ums Prinzip. Man wollte nicht ausverkauft werden, da ließ man lieber die Höfe verrotten und schlug jene in die Flucht, die solche Kulturzeugnisse erhalten wollten. Da gab es viele schöne Beispiele von heimischen Handwerkern, die doch so überbeschäftigt waren und sich dann bitterlich beschwerten, wenn ein Arbeiter von außerhalb genommen wurde. Von Stammtischen, an denen die Alteingesessenen verstummten und starrten, wenn die Neubürger das Wirtshaus betraten, um etwas zu essen. Von Anliegerstraßen und Sperrschildern, die nie für die Einheimischen galten, sondern nur für die Zuagroasten. Und bei Hochwasser oder Brand wurde erst mal bei den Ureinwohnern geholfen, so betrachtet, hatten die Schmids ja Glück gehabt.
O ja, Irmi wusste sehr wohl, was Kathi meinte. Doch das alles war nicht neu und würde sich wohl nicht so schnell ändern. Auch das war ein Nachteil am Altern: Man hatte alles schon mal erlebt, tausendmal hatte es einen berührt und nie zu Besserung geführt. Die Desillusion war ein ständiger Wegbegleiter von Irmi, blöd nur, dass sie trotzdem noch zu schocken war und Enttäuschung empfand. Zumindest hätte sie erwartet, im Alter eine gewisse Abgestumpftheit zu entwickeln. Das war aber nicht so.
»Tja, Kathi, der Mensch lernt halt nichts dazu. Und der Brotneid ist eine Kernkompetenz. Die Schmids – eine schrecklich normale Familie.«
»Und jetzt?«, fragte Kathi, als sie in Garmisch waren.
»Gehen wir schlafen. Es ist nach zwölf. Und wir hocken jetzt nicht noch im Büro rum. Wir schlafen, und morgen bekommen wir hoffentlich neue Ergebnisse, die uns weiterhelfen.«
Nachdem Irmi eine halb verdaute Maus entsorgt hatte, die einer der Kater vor ihrer Schlafstatt abgelegt hatte, lag sie in ihrem Bett und starrte die Zimmerdecke an, über die eine Spinne wanderte. Spinnen bedeuteten Wohngesundheit, hatte sie mal gelesen. Trotzdem hoffte Irmi, dass sich das Viech heute Nacht nicht auf sie abseilen würde. Sie litt zwar nicht unter Arachnophobie, aber über die Nase laufen musste das Ding einem ja auch nicht. Kurz erwog sie, bei Jens anzurufen, aber sie war zu müde und zu erschöpft. Stattdessen schickte sie eine SMS : »Bin wieder zu Hause. Meld dich doch mal. Alles Liebe.« Sie hoffte auf eine Antwort, die kam aber nicht.
Am nächsten Morgen war die Spinne verschwunden, und noch immer war keine SMS gekommen.
6
Gerade als Irmi sich einen Kaffee machte, brachte Andrea erste Neuigkeiten. Inzwischen hatte sie die Tochter vom Beck in Stuttgart erreicht. Die Dame hieß inzwischen Lorenzi mit Nachnamen und war bei Mercedes-Benz in der PR -Abteilung beschäftigt. Andrea hatte in Erfahrung bringen können, dass Tereza tatsächlich Frau Lorenzis alte Mutter nach München in die Augenklinik begleitet hatte und heute zurückerwartet wurde.
Indes war Kathi hereingekommen. »Dann war die zweite Tote im Silo also nicht die Tereza«, bemerkte sie nüchtern.
Doch wenn Tereza lebte, was war mit Runa? War sie etwa in den Flammen verbrannt?
Die traurige Bestätigung traf eine Stunde später ein. Anhand des DNA -Abgleichs hatte man in der Gerichtsmedizin festgestellt, dass es sich bei der Toten um die Norwegerin handelte, die bei Frau Dr. Strissel gelebt hatte. Diese Nachricht versetzte Irmi solch einen Stich ins Herz, als hätte sie das Mädchen gekannt, das so strahlend vom Foto gelächelt hatte. Sie stand auf, ging herum und blieb schließlich vor dem Flipchart stehen, auf dem die Angehörigen der ganz normalen Familie
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