Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
energisch und scharfsinnig ist, auf Geld aus zu sein scheint und nicht einmal vor Diebstahl zurückschreckt, dessen Ausmaß nur von der jeweiligen Gelegenheit abhängt. Ist er Schuster, hat er bestimmt Leder gestohlen und weiterverkauft, und die über ihm stehen, sind daran beteiligt gewesen. Wenn er Elektriker ist, hat er sich nebenbei auf ähnliche Weise Geld verdient. Und über die Fahrer brauchen wir gar nicht erst zu reden.
Das Arbeitslager habe ihn gelehrt, »dass in 999 von 1000 Fällen die allgemeinen Prinzipien des Anstands den durchschnittlichen Häftling im Überlebenskampf entweder in den Hunger oder in den Tod treiben«.
Lew machte sich Sorgen wegen der Veränderungen, die ihm an ihm selbst auffielen. »Wieder werde ich überwältigt von der Furcht, die ich überwunden geglaubt hatte«, schrieb er Sweta. »Dass man im Lauf der Zeit wirklich zu einem wilden und tückischen Tier wird, das auch noch stumpfsinnig ist, weshalb ein Scherz einen nicht lächeln lässt und man nicht einmal fähig ist, Ludmilla oder Tanjuschka eine Geschichte zu erzählen.«
Was für ein Vater konnte er nach all den Jahren im Arbeitslager sein? Lew dachte gründlich über diese Frage nach. Durch seine Erfahrung hatte sich seine Ansicht darüber, wie Kinder zu erziehen seien, geändert. Er war kein gewalttätiger Mann, doch manchmal war er gezwungen gewesen, sich zu verteidigen. Nach einem solchen Vorfall hatte er Sweta geschrieben, im Lager sei ihm die Bedeutung der Körperkraft bewusst geworden. Er selbst hatte versucht, seine Kraft durch Gewichtheben zu steigern (die Hanteln stellte er aus den Radachsen von Eisenbahnwaggons her). Körperliche Stärke sei besonders wichtig für Kinder, denn sie wüchsen in einer grausamen Welt auf:
Körperkraft ist die höchste Notwendigkeit im Leben. Eltern, die ihre Kinder nicht zu physischer Entwicklung veranlassen, ob diese nun wollen oder nicht, sollten bestraft werden. Auf jeden Fall muss sie in einem viel höheren Umfang gefördert werden, als in den Schulen vorgesehen. Es ist ein Verbrechen, dass Nikolai Lilejew, der fast doppelt so groß ist wie ich, mich nicht im Gewichtheben übertreffen kann und dass in einem Kampf nur seine Körpergröße irgendeinen Vorteil brächte. Bei seinem Anblick würde man eigentlich glauben, er könne gorodki [eine Art Kegelspiel] mit Telegrafenmasten spielen.
Lews Erfahrung hatte ihn auch gelehrt, dass Kinder zum Überleben praktische Fertigkeiten benötigten:
Wozu taugt jemand, der wie ich eine Universitäts- oder sonstige Hochschulausbildung absolviert hat? Dieser Mensch, wenn er nicht am Institut bleibt und kein Lehrer wird, verfügt erst über das Rohmaterial, um sich zu einem künftigen Praktiker zu entwickeln, obwohl das Rohmaterial selbst nicht schlecht ist. Mir scheint, dass Kinder die Schule nicht länger als 7 Jahre besuchen sollten. Dann sollten sie 3–4 Jahre in einer Berufsschule – für Bauwesen, Elektrotechnik, Fahrzeugwesen, Mechanik etc. – und danach 1–2 Jahre in einer Lehre verbringen, um praktische Erfahrung zu sammeln. Solch eine Ausbildung, die intensive Kenntnisse auf einem Fachgebiet fördert, wird ihnen helfen, mit schwierigen Situationen fertig zu werden … Die Planung für solche Krisenfälle ist auch in unseren glänzenden Zeiten wichtig – nach Beispielen braucht man nicht lange zu suchen. Um ein Kind zu erziehen, muss man bereit sein, es für alle möglichen Dinge zu bestrafen, etwa wenn seine Freunde es schlagen und es nicht zurückschlägt. Noch strenger muss es bestraft werden, wenn es sich auch dann nicht zur Wehr setzen will … Und all das gilt auch für das weibliche Geschlecht, mit Ausnahme der Schlägereien natürlich.
Lew hatte miterlebt, wie viele Häftlinge ihre positiven Charakterzüge einbüßten und gehässig, gewalttätig, alkoholabhängig oder wahnsinnig wurden. Psychologisch gesehen, gab es nichts Beunruhigenderes für einen Häftling, als den Verfall eines anderen zu beobachten, nicht zuletzt wegen der beängstigenden Möglichkeiten für ihn selbst. Dies erklärt Lews recht schroffe Reaktion auf die Wandlungen des Halbletten Oleg Popow, der ihm so sympathisch gewesen war, bevor er mit einem Konvoi in einen Steinbruch geschickt wurde und eine Brotmanie entwickelte. Lew und Sweta hatten Oleg weiterhin Päckchen geschickt. Sein Interesse an Literatur erschien ihnen als Zeichen der Hoffnung, und sie besprachen miteinander, welche Bücher ihm gefallen mochten. Oleg konnte sich aus
Weitere Kostenlose Bücher