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Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Titel: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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Letztere sich herausgefordert fühlten, häufiger einfach nur, weil es ihnen Spaß machte –, aber kein Täter hatte je mehr als einen »strengen Verweis« oder einen Lohnabzug erhalten. Das neue Gesetz hatte zur Folge, dass sich die Behandlung der Häftlinge radikal verbesserte. Die Zahl der Wärter ging jedenfalls drastisch zurück, denn Arbeitslager wurden geschlossen, allmählich eingestellt oder in spezielle Wirtschaftszonen mit nominell freien Arbeitskräften umgewandelt.
    Diese humanere Atmosphäre trug jedoch nicht dazu bei, Lews anhaltende Probleme mit seinem Chef, dem Kraftwerkleiter Ilja Scherman, zu lösen. Der ungehobelte, kaum des Lesens und Schreibens kundige Mann war in den Rang eines MWD-Ingenieurleutnants aufgestiegen, obwohl er fast nichts von Technik verstand. Lew beschrieb ihn als »kleinkarierte Person, die an allem etwas auszusetzen hat … und jeden verdächtigt«. Scherman führte sämtliche Rückschläge im Kraftwerk auf Sabotage zurück. Gewöhnlich versuchte er dann, Lew, den er von Anfang an nicht hatte leiden können, die Schuld zuzuschieben. Er schikanierte Lew, erteilte ihm Befehle, die sich nicht ausführen ließen, und drohte mehrere Male, ihn als einfachen Arbeiter mit einem Konvoi in ein anderes Lager zu schicken. Dies war Lews schlimmste Befürchtung.
    Strelkow schaltete sich ein, um Lew zu retten. Im Juni 1953 sollte sein Laborassistent Tkatschenko entlassen werden, so dass ein Ersatz nötig wurde. Tkatschenko, ein Ingenieur und Chemiker, hatte die Aufgabe, die Wasserqualität im Dampfkesselsystem des Kraftwerks zu kontrollieren. Es war eine sehr verantwortungsvolle Position, denn falsche Berechnungen konnten schwere Unfälle zur Folge haben. Lew hatte während seines Studiums als chemischerAssistent gearbeitet und war daher der Aufgabe gewachsen, die, ein weiterer Vorteil, der Abteilung für technische Kontrolle (ATK) unterstand, einem höheren Gremium außerhalb von Schermans Einflussbereich. Mit Strelkows Genehmigung begann Tkatschenko nun, Lew einzuarbeiten. »Bevor er geht«, schrieb Lew Sweta am 13. April, »hat K. S. [Tkatschenko] vor, einen Teil seiner Weisheit über die Kontrolle der Wasserzufuhr an mich weiterzugeben. Vom heutigen Abend an werde ich seine Notizen und seine ganze Fachliteratur lesen. Dann hat er versprochen, mir die etwas praktischeren Dinge beizubringen.« Am 1. Juni übernahm Lew den neuen Posten. Obwohl er weiterhin im Kraftwerk arbeitete, wo Scherman den Befehl führte, schützte ihn seine neue Funktion als Wasserchemiker, dank der er Strelkow und der ATK unterstellt war, vor der Verschickung mit einem Konvoi. Lew schrieb Sweta am 9. Juni:
     
Ich fühle mich sehr ruhig, verglichen mit dem letzten Monat, und auch viel besser als im letzten Jahr, trotz der gewaltigen Arbeitslast. Nikolai [Lilejew] dachte aus irgendeinem Grund, dass es schwierig sein würde, für G. J. [Strelkow] zu arbeiten, besonders in meinem Fall. Diese Ansicht teilte ich nie, und allein schon der Gedanke kommt mir seltsam vor. Jedenfalls habe ich den Eindruck, dass ein ernstes Missverständnis zwischen G. J. und mir, unter welchen Umständen auch immer, unmöglich wäre. Frühere Auseinandersetzungen zwischen uns waren manchmal lautstark, aber nie schwerwiegend und immer nur einem Mangel an Intelligenz meinerseits geschuldet. Ich glaube, dass meine Erkenntnis dieser Sachlage mir helfen wird, mich zu beherrschen, obgleich mein Respekt vor G. J., der seitdem mit jedem Tag gestiegen ist, dafür ohnehin ausreichen sollte.
     
    Mochte Lew durch die Arbeit für Strelkow weniger angespannt sein, so ließ er 1953/54 gleichwohl Anzeichen wachsender Gereiztheit über seine anderen Freunde und fast all seine Mitbewohner in der Gefängnisbaracke erkennen. Nach so vielen Jahren des Eingepferchtseins war es kein Wunder, dass die Häftlinge reizbar wurdenund aneinandergerieten. Sogar die besten Freundschaften litten unter der Belastung.
    Lews Beziehung zu Nikolai Lilejew, seinem ältesten Freund im Arbeitslager, verschlechterte sich gegen Ende 1952. Sie waren sieben Jahre vorher mit demselben Konvoi in Petschora eingetroffen, und Lew hatte eine sehr hohe Meinung von Lilejews Freundlichkeit, Ehrlichkeit und Mut. Bei mindestens zwei Gelegenheiten hatte dieser außerordentliche Courage bewiesen: einmal, als er ein in Panik durch das Lager preschendes Pferd stoppte, und erneut, als er Strelkow das Leben rettete, indem er drei bewaffnete Verbrecher davonjagte (sie hatten Rache für einen

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