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Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Titel: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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früheren Vorfall nehmen wollen, bei dem Strelkow sein Labor vor ihnen verteidigt hatte). Doch trotz seiner Sympathie für Lilejew und seinem Repekt vor ihm – oder vielleicht genau deswegen – brachte Lew häufiger Ärger über ihn zum Ausdruck als über jeden anderen. Er beklagte sich über Lilejews »kindliche Art«, seine »oberflächlichen Lebensansichten« und seinen »Mangel an Takt«, besonders in der Unterkunft. »N. macht mich mit jedem Tag wütender«, schrieb Lew am 24. Dezember an Sweta.
     
Es scheint, dass wir einander schlicht überdrüssig sind. Ich finde wirklich nichts, worüber ich mit ihm sprechen könnte. Er interessiert sich nicht für die praktischen Probleme der Produktion, ist gleichgültig gegenüber allen – auch elektrischen – Maschinen, ob in praktischer oder theoretischer Hinsicht; sogar in seiner Mathematik ist er in Verzug geraten, während er all seine Zeit mit Tischtennis, Schach oder Deutschstunden mit Vadim verbringt. Kein Zweifel, dass Sprachen nützlich sind, doch für Vadim, genau wie für N., wären Elektrotechnik und Mathematik nützlicher. Deshalb kommen mir Nikolkas Unterrichtsstunden wie reiner Müßiggang vor, und ich muss an mich halten, um ihm das nicht ins Gesicht zu sagen. Wenn es keinen G. J. [Strelkow], Iwan [Waljawin] 50 oder A. M. [Juschkewitsch] gäbe,würde ich es immer noch zehnmal interessanter finden, mich mit irgendeinem Maschinisten oder sonst wem zu unterhalten, der das Leben mit offenen Augen betrachtet, als mit N.
     

    Lilejew (links) und Lew, 1949
     
    Lew war unfair und allzu kritisch. Was war denn dagegen einzuwenden, dass ein Häftling Entspannung im Schach- oder Tischtennisspiel suchte oder dass er sich mit der deutschen Sprache statt mit Mathematik beschäftigte? Lews Strenge und Ernsthaftigkeit waren mit dem Ärger über seine Mithäftlinge gewachsen. Alles an ihnen erbitterte ihn: ihr nächtliches Gestammel im Schlaf, ihr Herdeninstinkt, ihre Streiche und ihr Lärm, ihre endlosen Dominospiele, ihr sentimentales Schwelgen in Erinnerungen und die »übermäßige Zärtlichkeit« mehrerer Gefangener, die er besonders »abstoßend« fand. Lew war angewidert von den Gefühlen der Zuneigung, die sich zwischen Männern im Arbeitslager unvermeidlich entwickelten. Er war derlei zuvor nie begegnet, und es verstörte ihn. »Was das Familienideal betrifft«, schrieb er Sweta,
     
scheint es mir in einer Freundschaft zwischen Männern wirklich unangebracht zu sein. Dann ist es meiner Meinung nach nicht nur falsch, sondern eine Abnormalität, die für mich abstoßend, wenn nicht gar ekelhaft ist. Ich bin sicher, dass meine Freundschaft mit Andrjuschka [Semaschko], Schenka [Bukke], Nat [Grigorow] und Waska Gussew [sämtlich Vorkriegskommilitonen von Lew] aufrichtig und solide war – von der Art, ohne die jeder von uns das Leben schwerer gefunden hätte. Alles, was einen von uns berührte, wurde von den anderen nachempfunden, und jeder freute sich stets für den anderen – aber nach außen hin wurde dies höchstens durch einen Händedruck deutlich gemacht.
     
    Lew war indes nicht bloß irritiert, sondern regelrecht schockiert über die allmähliche Degeneration des menschlichen Charakters in seiner Umgebung. Menschen, die einst anständig gewesen waren, verrohten, wurden egoistisch, niederträchtig, verhärtet und gefühllos. »Bei den Menschen hier findet eine unvermeidliche psychische Entwicklung statt«, schrieb er Onkel Nikita. »Ihr Ausmaß hängt vom Einzelnen ab, aber die allgemeine Richtung geht dahin, dass sämtliche Gefühle abstumpfen … So werden schließlich Eigenschaften und Handlungen hingenommen, die früher nicht akzeptabel gewesen wären.«
    Das Erste, was Lew auffiel, war der Zusammenbruch der Kameradschaft. »Die endlose gegenseitige Feindschaft, die hier alle menschlichen Beziehungen erstickt, überrascht mich«, schrieb er Sweta.
     
Nirgends gibt es eine Spur von Solidarität unter Freunden oder wenigstens am Arbeitsplatz. Jeder misstraut dem anderen und versucht, ihn auszunutzen. Jeder ist wachsam und liegt auf der Lauer. Anscheinend existieren immer noch kleine Gruppen von Arbeitern, die durch gemeinsame Interessen zu einer Art Freundschaft vereinigt werden, doch diese Verbindung wird durch das Misstrauen, das an allen Beziehungen nagt, leicht zerbrochen.
     
    Wer Geschäften nachging, war unweigerlich ein Dieb:
     
Wenn ich die Menschen um mich herum beobachte, empört es mich wieder einmal, dass jeder neue Bekannte, der

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