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Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Titel: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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wie Du, um die Wahrheit zu sagen, Sweta, allerdings nicht Deinet-, sondern meinetwegen. Denn laut Freunden und ihren Erinnerungen an mich ist es schwierig, mit mir zu leben. Aber nicht deshalb möchte ich, dass Du bei Deiner Mutter bleibst, sondern weil ich meine, dass wir nie aufhören werden, uns Sorgen zu machen, wenn wir sie allein lassen. Und da ich mich Deiner Mutter gegenüber schon jetzt schuldig fühle (und das nicht nur in dieser Minute, sondern ständig), wie könnte ich es dann mit meinem Gewissen vereinbaren, wenn Du sie in Moskau zurückließest? Vorläufig fällt mir nichts anderes ein, als dass wir abwarten und – was eine Wohnung und einen Wohnort betrifft – versuchen, eine Situation zu schaffen, die für Deine Mutter annehmbar wäre und bei der wir endlich alle zusammenleben könnten. Worauf können wir denn sonst noch hoffen, da es weiterhin absolut keine Informationen gibt?
     
    Lew hatte keine Ahnung, wann er entlassen werden würde. »Meine Abreise liegt noch im Dunkeln«, schrieb er am 4. Juni,
     
aber ich denke bereits daran, meine Bücher nach und nach heimzuschicken. Nur weiß ich nicht, wohin genau. Ich habe zwei Koffer, die mit allen möglichen Büchern gefüllt sind. Zuerst will ich versuchen, die Menge auf anderthalb Koffer zu verringern und sie in kleinen Päckchen zu versenden, da ich nicht weiß, wohin ich als Erstes gehen werde, und es wäre lästig, sie überallmit herumzuschleppen. Aber wenn ich sie in kleinen Päckchen verschicke, dann an wen? An Dich oder an Onkel Nikita?
     
    Sechs Tage später bestand auch »nicht mehr Gewissheit über die Zukunft«. Über das Entlassungsverfahren lägen »keine amtlichen Erklärungen oder unterzeichneten Dokumente« vor, wie Lew Sweta mitteilte, »und diejenigen, die das Lager verlassen, durchlaufen heute eine andere offizielle Abfertigung als morgen«.
    Während er so in der Luft hing, fasste Lew einen provisorischen Plan, um seine Chance zu verbessern, in einem Umkreis von weniger als 50 Kilometern um Moskau wohnen zu dürfen: Er wollte als Erstes zu Onkel Nikita nach Malachowka fahren und versuchen, sich sein Diplom zu beschaffen, was ihm, wie er meinte, helfen würde, einen besseren Arbeitsplatz und einen günstigeren Wohnort zu finden.
     
Ich werde mich bemühen, mein Diplom von Onkel N.’s Wohnung aus aufzutreiben und dann Arbeit zu suchen. Und ich werde natürlich bei allen vorbeischauen, die mich erwarten. Ich gelobe mir selbst, meine Sturheit [darüber, nicht von anderen abhängen zu wollen] einen Monat lang zu beherrschen, und zwar aus dem vernünftigen Grund, dass jeder nach einem solchen Zeitraum der Mühsal das Recht hat, sich einen Monat freizunehmen. Und sollte er nicht im Lauf des folgenden Jahres sterben, wird er in der Lage sein, seine Schulden zu begleichen … Sollte am Ende oder gegen Ende des Monats klar werden, dass die Sache [das Beschaffen des Diploms für die Arbeitssuche bei Moskau] nicht funktioniert, dann werde ich nach K[alinin] oder zu irgendeinem anderen Ort reisen, der für uns beide geeignet zu sein scheint, und mich dort nach Arbeit und vier Wänden und einer Decke umsehen, wo ich Deinen Besuch in besseren Zeiten abwarten kann.
     
    Am 7. Juni begab sich Swetas Vater in ein Sanatorium in Schirokoje, nicht weit von Kalinin, um sich dort den Sommer über zu erholen.Am 1. Juli erlitt er einen Schlaganfall und zehn Tage später einen weiteren. Sweta eilte zu ihm. Ihr Vater war nicht gelähmt, aber sehr geschwächt und hatte Schwierigkeiten beim Sprechen. Swet schickte Lew ein Telegramm: »Papas Zustand durch sekundären Schlaganfall kompliziert. Nun langsame Verbesserung. Bleibe in Schirokoje.«
    Lew rechnete in den nächsten Tagen mit seiner Entlassung. Nun, da der Moment nahte, verspürte er nichts von der Euphorie, die er vielleicht erwartet hatte. In mancher Hinsicht war er bekümmert über das Ende seiner Haft. Er hatte Freunde gewonnen, die er vermissen würde – Männer wie Strelkow, der krank war und den er nicht zurücklassen wollte, wie er Sweta in seinem letzten Brief aus dem Arbeitslager erklärte. Hätte er all seine Schreiben in den vergangenen acht Jahren durchnummeriert, wäre es der 647. Brief gewesen.
     
9. Juli 1954 Nr. 29
 
Swetloje, nach Deinem Telegramm habe ich Deinen Brief vom 29. erhalten. Ich hoffe, dass morgen noch etwas eintrifft. Wie geht es Alexander Alexejewitsch [Swetas Vater]? Und Deiner Mutter? Die vergangene Woche war wirklich anstrengend für mich – ich musste

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