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Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Titel: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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frisch gebleicht und nach ländlicher Art verputzt sind. Rauch stieg aus ihren Schornsteinen, und die Fensteraugen waren gelb vom Licht im Innern. Erst das 23-Uhr-Signal [für »Licht aus« in den Baracken] erinnerte uns an die Zeit. Innerhalb von fünf Minuten waren wir nicht mehr unter dem imaginären Dach des Maly-Theaters in Moskau, sondern unter unseren Decken. So leben wir hier.
     
    Der Winter setzte im Jahr 1946 früh ein. Darauf war das Holzkombinat nicht vorbereitet. Man hatte nicht genug Stiefel, Mützen, Handschuhe und wattierte Jacken für die Häftlinge, und viele Gebäude waren baufällig. Da der Fluss frühzeitig zufror, wurde das Holz knapp, weil man die Stämme nicht mehr von den Arbeitslagern und -kolonien, die dem Holzkombinat zugeordnet waren, hinuntertreiben lassen konnte.
    Mitte Dezember, als die Temperatur auf minus 35 Grad fiel, kamauch die Lieferung von Briefen fast ganz zum Stillstand. Lew schickte seinen letzten Brief des Jahres 1946 am 25. Dezember ab. Er hatte seit zweieinhalb Wochen nichts von Sweta gehört und war zutiefst besorgt, da sie unter hohem Fieber gelitten hatte. »Sweta, ich ertrinke in einem Meer der Verzweiflung und kann nicht an die Oberfläche schwimmen – kein Brief ist eingetroffen.« Am 9. Dezember hatte Lew den seiner Meinung nach letzten Brief geschrieben, der Sweta vor dem neuen Jahr erreichen würde. Es war Nummer 24. »Was wünsche ich mir für Dich – für uns?«, hatte er gefragt und seine eigenen Wünsche mit ihrem Wohlergehen gleichgesetzt. »Ich selbst wünsche mir nichts anderes als mehr Briefe … und wenn ich mir noch etwas wünschen könnte, dann Folgendes: dass Du das Jahr bei besserer Gesundheit, guten Mutes – trotz allem – und zusammen mit Freunden beginnst.« Lew plante, zu Silvester Tee mit Strelkow zu trinken, der nach einer Magenkrankheit und zwei Operationen, die seinen Zustand nicht verbessert hatten, hager aussah. »Er macht gute Miene zum bösen Spiel«, schrieb Lew am 25., doch »nur diejenigen, die ihn nicht kennen, lassen sich durch seine Selbstbeherrschung täuschen. Ich kann es an seinem Gesicht ablesen … Sweta, versuch, etwas für seine Magenkrankheit zu schicken.« Es war typisch für Lew, dass er daran dachte, anderen zu helfen, ohne für sich selbst etwas zu erbitten.
    Unterdessen wurde Sweta von Verzweiflung überwältigt. Am Silvesterabend schrieb sie an Lew, dessen Brief vom 9. Dezember nicht eingetroffen war. Um eine Verbindung zu ihm herzustellen, hatte Sweta beschlossen, an jenem Abend zu Hause zu bleiben und die nächste Mitteilung an ihn zu beginnen. »Ich habe es satt, Feiertage ohne Dich zu verbringen«, schrieb sie.
     
Ich habe kaum je an etwas Spaß, und Du kannst mir glauben, dass es niemandem, abgesehen von Irina, auffällt. Immerhin habe ich Alik [Swetas Neffen] Freude gemacht: Wir zündeten die Kerzen am Weihnachtsbaum an und tranken am Tisch einen festlichen Tee … Es ist fast Mitternacht, und Alik ist gerade erst eingeschlafen. Er fürchtet sich immer noch vor dem Zubettgehen … Der Weihnachtsbaum ist herrlich – kräftig und grün bis an die Decke. Noch kein einziger Ast stirbt ab. Jara hat eine kleine silberne Nuss an jeden der oberen sechs Zweige gehängt, und an der Spitze ist ein roter Stern (natürlich). Wir haben noch den Schmuck aus unserer alten Wohnung in Leningrad, obwohl ich anderen eine Menge davon für ihre Bäume geschenkt habe. Der Weihnachtsbaum scheint Erwachsenen mehr Freude zu bereiten (weil er Erinnerungen weckt). Alik hatte größeres Interesse an dem Widerschein der Lichter in der Brille seiner Großmutter (»Woher kommen sie alle?«) und dem ABC-Buch, das er als Geschenk erhalten hatte … Wir spielten Wortspiele (Ist es weiblich oder männlich? Was für ein Buchstabe ist das?) … Auch ich bin glücklich, weil ich Dir geschrieben habe. Dies wird der erste Brief des neuen Jahres sein – die Uhr hat bereits geschlagen –, und ich werde sofort eine »2« auf den nächsten Brief setzen. Morgen werde ich in den Geschäften auf Büchersuche gehen. Ich habe etliche Bücher, die noch verschickt werden müssen, aber ich habe Angst, alle gleichzeitig aufzugeben. Vorläufig haben wir nicht einmal einen kleinen Karton oder etwas, mit dem wir einen herstellen könnten, und ohne Karton werden sie nicht angenommen … Ich weiß nicht, ob ich Dir geschrieben habe, dass ich nun Besitzerin einer ganz wunderbaren Sammlung mit dem Titel »Klassische Dichtung« bin, die man für Arbeiterkinder

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