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Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Titel: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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ihn aufgebracht, denn es missfiel ihnen, von einem gewöhnlichen Häftling Anordnungen zu erhalten, während sie selbst unter Druck standen und den Produktionsplan erfüllen mussten. 1943 war Strelkow mit Anatoli Schechter aneinandergeraten, dem stellvertretenden Direktor der Forstabteilung der Eisenbahn von Petschora. Strelkow hatte den Funktionär daran gehindert, Baumaterial zu verwenden, das nicht den technischen Erfordernissen entsprach. Die Angelegenheit war schließlich von den höchsten Gulagbehörden verhandelt und in Strelkows Sinne entschieden worden. Aber Schechter hatte den Vorfall nicht vergessen und Strelkow seitdem unablässig verfolgt, indem er alles, was dieser tat, bemängelte.
    Im Dezember 1946 verbrachte Schechter mehrere Wochen im Holzkombinat, um dessen Arbeit zu inspizieren. Der Leiter der Trocknungsanlage – ein Häftling namens Gibasch, der laut Lew »allen als Verleumder und Erpresser bekannt« war – nutzte diese Gelegenheit, seine eigene Karriere voranzutreiben, und schrieb eine bösartige Anzeige, in der er Strelkow bezichtigte, dieser habe sich geweigert, Holz für die Werkstätten freizugeben, weil es nicht trocken sei, was nicht den Tatsachen entspreche. Gibasch schickte ein Holzmuster zu Tests in ein Nachbarlabor, welches das Holzstück für trocken befand, obwohl geargwöhnt wurde, er selbst habe das Muster vor der Verschickung getrocknet. Auf der Grundlage dieser Anzeige – darin wurde Strelkow in der Sprache des Großen Terrors vorgeworfen, »die Freigabe des Trockenmaterials subversiv verzögert und den Plan der Fabrik durchkreuzt« zu haben – enthob man Strelkow seines Postens und führte ihn dem MWD wegen »Sabotage« vor. Strelkow wandte sich an die Abteilung für technischeKontrolle, weitere Holzmuster wurden getestet, und schließlich rehabilitierte man ihn und gab ihm seinen Posten zurück. Gibasch erhob jedoch neue Vorwürfe, und der Fall zog sich bis in die ersten Wochen des Jahres 1947 hin, als Lew an Sweta schrieb:
     
Ich wollte nicht auf die Sache eingehen – sie ist so traurig –, aber Du bist die einzige Person, mit der ich meine Sorge teilen kann … Was bringt Menschen dazu, andere, die in der gleichen Lage wie sie selbst sind, ruinieren zu wollen? Gibasch ist überhaupt kein Mensch, denn er hat das Recht auf jene Bezeichnung schon vor langer Zeit verloren … Während der gesamten Affäre habe ich Strelkows Fassung und Selbstkontrolle aufrichtig bewundert. Manchmal wünschte ich mir, an seine Frau oder Tochter schreiben und ihnen mitteilen zu können, was für eine wunderbare Person zu ihrer Familie gehört. Das ist natürlich albern, denn sie wissen es besser als jeder andere, und ich würde nichts zustande bringen außer einer Taktlosigkeit, aber ich fürchte, dass ich es trotzdem tun werde. Seine Tochter studiert an der Moskauer Staatsuniversität für Eisenbahntechnik und lebt mit ihrem Mann, ihrem kleinen Sohn und ihrer Mutter in der Prawdastraße. Die Behörden werden etwas wegen der Strelkow-Angelegenheit unternehmen, aber es geht zu langsam voran, und Gott weiß, wem sie den Vorzug geben. Manchmal werden die idealistischsten Personen hier in die dunkelsten Gassen gezwungen – ich bin zu einem absoluten Skeptiker geworden und glaube nur noch an die Vergangenheit.
     
    Eine gute Nachricht traf am 28. Januar ein, als die Gulagverwaltung von Petschora in Abes einen Erlass verabschiedete, durch den Strelkow wieder eingesetzt wurde. Ein paar Wochen später schickte man Gibasch fort nach Workuta, der weiter nördlich gelegenen Kohleregion.
    Die Strelkow-Affäre hatte in Lew etwas ausgelöst: Er schilderte Sweta nun offener, wie sich die Lagerbedingungen auf ihn auswirkten. Vor allem verstörte ihn der Umstand, dass das Lagersystem beifast allen Insassen die schlimmsten Charakterzüge hervortreten ließ: Kleinliche Rivalitäten und Feindschaften wurden durch die Enge und den Überlebenskampf verstärkt; böser Wille schwärte und schlug schnell in Gewalttätigkeit um. »Mein Liebling Sweta, ich muss Dich über alle möglichen Dinge unterrichten«, schrieb Lew am 1. März.
     
Ich kann Dir nicht viel mitteilen, was Dir Trost spenden wird. Sweta, vielleicht sollte ich diese Worte überhaupt nicht zu Papier bringen. Du hast einmal gesagt, es sei nicht immer gut oder notwendig, schmerzliche Sätze zu beenden. Aber nachdem ich einmal angefangen habe, muss ich einen Abschluss finden. Verstehst Du, dass es nicht die materiellen Nöte sind, die wir am schwersten

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