Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
Mathematik und Wissenschaft, und Lew fand ihre Unterhaltungen stets anregend.
Ich lerne etwas aus meinen Gesprächen mit ihm. Abgesehen von dem reinen Vergnügen gefällt mir am besten, dass er, obwohl er vielleicht weniger weiß als ich, mathematisch denkt und die Dinge besser durchschaut. Wenn ich vorschnell urteile, korrigiert er mich unweigerlich, so dass wir gemeinsam in der Regel eine Lösung finden.
Noch mehr als die Mathematik war es freilich die Fotografie, welche die beiden Lews miteinander verband. Israilewitsch nahm Hunderte von Häftlingsfotos auf – ein außergewöhnlich seltenes Phänomen im Gulag. Lew schickte Sweta mehrere Fotos von sich selbst und seinen Freunden. Zuerst fürchtete er, er habe sich in fast sechs Jahren in den Lagern so sehr verändert, dass sie ihn vielleicht nicht erkennen werde. »Vor ein paar Tagen ergab sich – ganz unerwartet – die Gelegenheit, ein Foto von mir machen zu lassen«, schrieb er Sweta im April.
Ich habe das Ergebnis beigelegt, das dem Original halbwegs ähnlich ist. G. J. [Strelkow] ist vorn. Es mag einer Erklärungwert sein, dass von den beiden anderen ich der zur Rechten bin. Daneben wirst Du aus den Bildern ersehen können, dass ich durchaus gesund bin und somit meine Bitten, Dich nicht um mich zu sorgen, völlig begründet sind … Ich habe Tante Olja und Tante Katja das gleiche Bild geschickt, an Tante O.’s Adresse (postlagernd), allerdings nur eines. Wenn sich die Gelegenheit bietet, werde ich versuchen, meine Unachtsamkeit zu korrigieren, indem ich ihnen ein weiteres zukommen lasse, aber ich liebe mein Gesicht nicht so sehr, dass ich eine Menge Abzüge verteilen möchte.
Sweta schrieb über dieses (verlorengegangene) Foto, das erste von Lew, das sie seit 1941 gesehen hatte:
Tante Katja hat uns heute besucht. Sie hat Dein Foto noch nicht erhalten, doch ihr gefiel mein Exemplar. Sie sagt, Du hättest einen schönen Gesichtsausdruck und fröhliche Augen. Meiner Meinung nach liegt das nur daran, dass sie ohne eine stärkere Brille einfach nicht erkennen kann, dass Dein Gesichtsausdruck genau das Gegenteil ist. Aber alle Umstände erwogen, siehst Du viel mehr wie Du selbst aus, als ich erwartet hätte. Die schlechte Beleuchtung wirft einen Schatten über Dein Gesicht, so dass die Hälfte düster ist und nicht ganz Dir zu gehören scheint. Trotzdem ist Sweta Deinem Namensvetter dankbar.
Es gab mehrere andere freie Arbeiter, die ebenfalls Briefe für Lew und die übrigen Häftlinge in das Holzkombinat hinein- und aus ihm herausschmuggelten. Einer von ihnen war Alexander Alexandrowski, ein grauhaariger Mann von Mitte fünfzig, der in der Nachschubabteilung arbeitete. 1892 bei Woronesch geboren, hatte Alexander im Ersten Weltkrieg gekämpft und sich den Roten im russischen Bürgerkrieg angeschlossen. 1937 wurde er verhaftet, nachdem er gegen die Erschießung von Marschall Tuchatschewski, einem Bürgerkriegshelden, Stellung bezogen hatte. Er wurde zu fünf Jahren Haft im Lager Petschora verurteilt und blieb nach seinerEntlassung am Ort, wo er mit seiner jüngeren Frau Maria zusammenlebte, die während des Krieges aus Kalinin nach Petschora evakuiert worden war. Sie arbeitete in der Telefonzentrale an der Sowjetstraße. Die beiden wohnten mit ihren beiden kleinen Söhnen in einem tief eingegrabenen Haus am Fluss, um dann 1946 in eine der Baracken der Siedlung innerhalb der Industriezone zu ziehen. In dem Häuschen, dessen Wände aus Sperrholz bestanden, war es sehr beengt. Sie hatten eine winzige Küche (ohne fließendes Wasser) und zwei kleine Zimmer, aber nur ein Einzelbett. Die Jungen schliefen auf dem Fußboden. Im Garten hinter dem Haus hielten sie ein paar Hühner und ein Schwein.
Alexander und Maria waren gute Freunde von Strelkow. Oft bewirteten sie ihn und seine Leute aus der Elektrogruppe in ihrem Heim. Sie sympathisierten mit den politischen Häftlingen und taten, was in ihrer Macht stand, um die Männer zu unterstützen. Maria belauschte Gespräche von Funktionären in der Telefonzentrale und konnte so die Häftlinge vor geplanten Konvois und anderen Strafmaßnahmen warnen. Außerdem verschickten und empfingen die beiden Briefe für die Insassen. »Mein Vater verbarg die Briefe in seinem Hemd und beförderte sie so aus der Gefängniszone hinaus oder ins Lager hinein«, erinnerte sich ihr Sohn Igor, der damals die Briefmarken sammelte. (Lew ermunterte Sweta und seine Tanten, unterschiedliche »interessante Briefmarken«
Weitere Kostenlose Bücher