Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
auf die Umschläge zu kleben, denn »hier gibt es einen eifrigen Sammler«.) »Mein Vater hatte einen Passierschein für die Industriezone und wurde nie durchsucht«, fuhr Igor fort. »Er hatte vor niemandem Angst und sagte immer: ›Sollen sie doch versuchen, mich zu bestrafen!‹«
Alexander und Maria mit ihrem jüngeren Sohn Wladimir
Stanislaw Jachowitsch, ein Maschinist im Holzkombinat, war ein weiterer freiwilliger Arbeiter, der Briefe für die Häftlinge schmuggelte. Als Lew ihm zum ersten Mal im Kraftwerk begegnete, wäre es fast zu einer Schlägerei zwischen den beiden gekommen. Jachowitsch hatte Lews saubere Handschuhe benutzt und sie verschmutzt und verschmiert zurückgegeben. Es war Lews erste Woche im Kraftwerk, und daher wollte er zeigen, dass er sich nicht herumstoßen ließ. Nach seinem Armeedienst fühlte er sich stark, und er wusste, sein Überleben würde davon abhängen, dass er in der Lage war, sich zu verteidigen. Deshalb ging er auf Jachowitsch los und drohte, »ihm die Fresse zu polieren«, falls er seine Handschuhe noch einmal benutzte. Jachowitsch schwieg und lächelte nur. Er war viel größer als Lew und merkte sofort, dass dieser trotz seiner kämpferischen Worte nicht gewalttätig war. Schließlich wurden die beiden Männer Freunde.
Jachowitsch war ein Pole aus Łódz´, der Russisch mit einem leichten Akzent sprach. Er hatte ein Technikum absolviert, eine Russin aus Orjol geheiratet, und seine beiden Kinder, ein Sohn und eine Tochter, waren 1927 und 1935 geboren worden. Bis 1937 arbeitete er als Maschinist und wurde dann höchstwahrscheinlich wegen seiner polnischen Herkunft (dies genügte, um ihn zu einem »polnischen Nationalisten« abzustempeln) verhaftet. Nachdem er acht Jahre im Arbeitslager Petschora abgesessen hatte, blieb er nach seiner Entlassung im Jahr 1945 dort und lebte nun mit einer Frau namensLjuska zusammen, die ebenfalls ihre Strafe hinter sich hatte. Sie wohnten in einem Zimmer in einer der Baracken an der Holzkombinatsstraße knapp außerhalb des Stacheldrahtzauns der Industriezone.
Nach seinem langen Aufenthalt in Petschora hatte Jachowitsch tiefes Mitgefühl mit den Häftlingen und half ihnen nach Kräften, indem er unter hohem Risiko für sich selbst Botengänge erledigte, Lebensmittel herbeischaffte und Briefe zustellte. Besonders am Herzen lagen ihm die Insassen, die wie er selbst von ihren Frauen getrennt worden waren. Im Jahr 1947 sollte er nach Orjol reisen, um seiner Frau und Tochter zuzureden, sich ihm in Petschora anzuschließen.
Einmal gab Lew Jachowitsch ein Bündel von Swetas Briefen, das er unter einem Dielenbrett in seiner Baracke versteckt hatte. Jachowitsch sollte die Briefe aus dem Lager hinausbringen und sicher verwahren, bis jemand sie nach Moskau mitnahm, wo Sweta sie sammeln würde. Ohne Zensurstempel waren die Briefe illegal und würden beschlagnahmt und vernichtet werden, falls die Wärter sie bei einer Durchsuchung fanden. Lew würde zur Strafe in den Isolationsblock verlegt oder in die 3. Kolonie versetzt werden, wo entsetzliche Bedingungen herrschten und Häftlinge mit einem Strafkonvoi fortgeschickt wurden, wenn sie erneut gegen die Vorschriften verstießen. Jachowitsch stopfte sich das straffe Briefbündel in die Jacke und steuerte auf die Hauptwache zu, um das Lager zu verlassen. Da dem Wärter die Wölbung in seiner Jacke auffiel, hielt er Jachowitsch an und fragte ihn, was er bei sich habe. »Was, das hier? Bloß Papiere«, erwiderte Jachowitsch. »Zeig sie mir«, befahl der Wärter. Jachowitsch zog das Päckchen hervor. »Aber das sind Briefe«, sagte der Wärter. »Na und?«, antwortete Jachowitsch. »Jemand hat sie weggeworfen, und ich nehme sie mit zum Toilettenblock, um sie als Papier zu benutzen.« Der Wärter winkte ihn durch.
Während sich das Schmugglernetz entwickelte, wurde Lew zuversichtlicher, dass er die Zensoren umgehen konnte, und er begann, sich offener zu äußern. Das erste Thema, das er auf diese neue Artbehandelte, betraf etwas, das ihn seit mehreren Monaten beunruhigte: eine Fehde gegen Strelkow. Der Fall zeigte die dunklere Seite der menschlichen Natur in den Lagern auf. Strelkows Fachkenntnis als Bergbauingenieur hatte ihm eine mächtige Position als Leiter des Labors verschafft, das Produktionsmethoden im Holzkombinat testete und überprüfte. Niemand konnte ihn ersetzen, aber seine »hartnäckige Beharrlichkeit« (so Lews Worte) bei der Durchsetzung seiner Ziele hatte einige der Gulagbosse gegen
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