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Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Titel: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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ertragen? Es sind zwei andere Dinge: der Mangel an Kontakt mit der Außenwelt und die Tatsache, dass sich unsere persönliche Lage jederzeit und unerwartet ändern kann. Wir haben keine Ahnung, was morgen – oder auch nur in der nächsten Stunde – geschehen wird. Unser offizieller Status kann sich wandeln, oder wir werden von einer Minute zur anderen aus dem trivialsten Grund (und manchmal auch ohne jeglichen Grund) sonst wohin geschickt. Den Beweis dafür liefert das, was Strelkow, Sinkewitsch (er musste heute abreisen) und einer Vielzahl anderer zugestoßen ist.
   Hier herrschen (auf eine tragische Art) interessante Zustände, weil sich alles im normalen Leben vergrößert. Menschliche Fehler und Schwächen und die Folgen unserer Handlungen gewinnen eine gewaltige Bedeutung. Natürlich gibt es auch Tugenden, doch während sie schon unter normalen Umständen keine große Rolle spielen, werden sie hier so viel seltener, dass sie ganz zu verschwinden beginnen. Groll wird zu Feindseligkeit, Feindseligkeit verwandelt sich in wilden Hass, Kleinlichkeit wird zu Bosheit und führt irgendwann zu einem Verbrechen. Schroffheit wird zu einer Beleidigung, Misstrauen zu Verleumdung, Geldgier zu Raub und Empörung zu Wut, die manchmal mit Mord endet …
   Jede auch nur entfernt positive Tätigkeit wird sinnlos und unnötig, sowohl von einem egoistischen als auch von einem allgemeinen Standpunkt aus. Das Beste, was man sich erhoffen kann, ist etwas recht Langweiliges, wie die Pflichten eines Platzanweisers in einem entlegenen Provinztheater, durch die man zumindest 16 Stunden pro Tag für sein Privatleben zur Verfügung hat und nebenbei ein wenig Geld verdient …
   Ach, Sweta, heute ist solch ein sonniger Tag, dass all der Unsinn, den ich geschrieben habe, niemandem zu nützen scheint.
     
    »Sonst wohin geschickt zu werden« war Lews große Sorge. Damit meinte er einen Strafkonvoi zu einem anderen Lager oder einer Waldkolonie, wo die Verhältnisse schlechter sein würden. Lew hatte keine Angst vor den »materiellen Nöten«, sondern davor, den »Kontakt mit der Außenwelt« – mit Sweta – zu verlieren. Auf einem Konvoi würden die Wärter all seine Sachen beschlagnahmen (»alles wird verschwinden – Gedrucktes, Geschriebenes, Briefe, Fotos«, hatte er ihr erklärt), und er konnte an einem Ort landen, wo er keine Möglichkeit haben würde, mit irgendjemandem zu korrespondieren. Genau das war auch Swetas Befürchtung: dass Lew jederzeit verschwinden und sie die Verbindung zu ihm verlieren könnte. Jeden Monat verließen Konvois das Holzkombinat. Die Lagerverwaltung benutzte sie, um gewisse Häftlinge zu bestrafen und Gruppen, die als gefährlich galten, zu zerschlagen. Die Gründe dafür, ob ein Gefangener für den Konvoi ausgewählt wurde, waren in der Regel willkürlich und hatten oft lediglich damit zu tun, dass ein Wärter oder Funktionär den Betreffenden nicht leiden konnte.
    Lews zweitgrößte Sorge war es, krank zu werden. Das Eintreffen von Häftlingen aus anderen Lagern und Kolonien – »die fast immer viel schlechter und fürchterlich ungesund aussehen« – erinnerte ihn stets daran, wie leicht er erkranken konnte:
     
Dystrophie – Auszehrung – ist in unserem Lager normal. Außerdem leiden viele unter Skorbut, aber mit etwas Wissen und Erfahrung lässt er sich halbwegs behandeln, denn die Sommersind grün, und wenn man kein Vitamin C durch den Verzehr von Zitronen bekommt, findet man immer noch genug davon in Kiefernnadeln und allen möglichen Kräutern. Man muss nur daran denken. Im Winter habe ich Deine Tabletten angemessen verwendet und sie mit ein paar Freunden geteilt – Anissimow nimmt den Rest zu sich; er hatte etwas Skorbut, fühlt sich nun jedoch besser. Siehst Du, wie Deine Tabletten geholfen haben!
     
    Falls Lew erkrankt wäre, hätte er sich in der Klinik des Holzkombinats wahrscheinlich nicht sehr rasch, wenn überhaupt, erholt. Dort gab es nur einen einzigen Arzt, kaum Medikamente und wenig Lebensmittel, da die für die Patienten bestimmten Vorräte regelmäßig von den Wärtern gestohlen wurden.
    Während das Schmuggelsystem verfeinert wurde, teilte Sweta ihrerseits mehr Neuigkeiten mit Lew. Am 20. Januar feierte sie den Vortag von Lews 30. Geburtstag, indem sie mit ihren Angehörigen und Freunden einen Trinkspruch auf ihn ausbrachte. Dann besuchte sie Tante Olga, die ihm mit Swetas Hilfe ein Päckchen schicken wollte. »Ich habe Deinen Standpunkt deutlich gemacht und mich

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