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Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Titel: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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Energie darauf verschwendest, Anträge für das Maximum zu stellen«, hatte er Sweta mitgeteilt. Trotzdem blieb sie weiterhin an beiden Fronten aktiv. »Dir fehlt der Glaube, und auch meiner ist nur gering, wahrscheinlich nicht größer als Deiner«, hatte sie im Dezember geschrieben. »Aber, Lew,wenn irgendeine Möglichkeit besteht, ist sie dann nicht einen Versuch wert? Ich weiß, dass es noch mehr unnötigen Schmerz auslösen wird, wenn die Sache scheitert. Deshalb müssen wir besonnen sein und dürfen uns keinen falschen Hoffnungen hingeben, aber wir sollten trotzdem handeln. Nichts geschieht von allein.«
    Gegen Februar 1947 war Lew zu der festen Überzeugung gelangt, dass es zu spät war, an eine Berufung irgendeiner Art zu denken. Er meinte, seine wissenschaftliche Forschung am Physikalischen Institut habe zu viel »mit studentischer Arbeit« gemein gehabt, um eine Versetzung zu rechtfertigen. Gleichwohl versprach er Sweta, mit Strelkows Hilfe herauszufinden, ob ein Vertreter des Gulag-Wissenschaftsprogramms in Petschora erscheinen werde; wenn ja, wolle er sich an ihn wenden. Eine Berufung hätte dazu geführt, dass man die Ermittlungen gegen ihn durch das Militärgericht in Frankfurt an der Oder überprüfte. Da er wusste, dass der Prozess manipuliert worden war, hielt er es für sinnlos, das Ganze noch einmal durchzumachen und seine Situation vielleicht zu verschlimmern. In einem langen und aufrichtigen Brief vom 1. März versuchte Lew, jede weitere Erörterung des »Minimums« und »Maximums« auszuschließen.
     
Ich werde das Maximum nicht in Erwägung ziehen, weil für eine Berufung, wenn sie die geringste Erfolgschance haben soll, Zeugen benötigt werden. Man lädt jedoch nie Zeugen vor, und es wäre ohnehin schwierig, sie zu finden. Ich bin nicht einmal sicher, dass keine neuen Lügen zwischen dem Zeitpunkt ihrer Aussage und … der Urteilsverkündung auftauchen würden. Zwar trifft es zu, dass man beim zweiten Mal erfahrener ist … aber die Erfolgsaussichten sind trotzdem schwach. Jede Handlung kann stets mindestens zwei verschiedenen Motiven zugeordnet werden: einem »guten«, was die natürliche Erklärung ist, und einem »bösen«, das nach ihrer verschwörerischen Denkweise »schmutzige Taten« deckt. Das größte Problem besteht darin, dass viele der Tatsachen, die zu meinen Gunsten wiegen könnten, nicht durch Zeugen zu belegen sind, und niemand wirdmir Glauben schenken. Die Herren Professoren [Staatsanwälte] sind überzeugt, dass jeder, der ihnen vorgeführt wird, unfähig ist, sich von aufrichtigen Motiven wie Patriotismus oder den Prinzipien der guten Sitten leiten zu lassen …
   Was das Minimum angeht, so macht die geheime militärische Bedeutung der Kern- und Raumforschung jede Möglichkeit zunichte, dass eine nach Artikel 58–1 (b) angeklagte Person – und schon gar nicht jemand ohne besonderen Ruf – auf diesen Gebieten arbeitet. Die Tatsache, dass eine Person, die ihre Strafe abgeleistet hat, nicht einmal in fernen Provinzstädten – mit Ausnahme von Jakutien, Komi, Kolyma und einigen anderen – in einem großen Wirtschafts- und Industriezentrum tätig sein darf, ist ein deutlicher Hinweis darauf, wie die politischen Artikel, auch die nicht so schwerwiegenden, von den Behörden eingeschätzt werden. Keine Zeugenaussage zugunsten eines Häftlings kann diese Artikel mildern. In zwei Monaten wird hier jemand entlassen werden, der in der »Tuchatschewski-Ära« [1937] verurteilt wurde. Dieser Mann ist ein früheres Mitglied des Zentralkomitees des Kommunistischen Jugendbundes, Militärpilot und – daran hat sich in den Lagern nichts geändert – ein wahrhafter Enthusiast. Er hat hier als Sattler gearbeitet und sich sämtlichen Problemen des Holzkombinats gewidmet, als wären sie seine eigenen … Etliche Male hat er seine Brotration verkauft und auf Tabak verzichtet, damit er die Lederriemen, die wir in den Werkstätten benötigen, kaufen konnte. Und niemand hat ihm je für irgendetwas gedankt oder sich an seine Verdienste erinnert, als entschieden wurde, wo er nach seiner Entlassung wohnen darf. Man kann seine Urteilsbedingungen nicht ändern.
     
    Sweta war nicht bereit, Lews Argumentation zu folgen. Sie schrieb ihm am 8. Juni:
     
Ich weiß einfach nicht, was ich sagen soll. Ich kann Dir nicht widersprechen, denn mir ist klar, dass alles, was Du schreibst, zutrifft. Diese üble Wahrheit macht 99,99 Prozent Deiner Situationaus, und das Wenige, was bleibt, ist dem Zufall

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