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Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Titel: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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geweigert, ein Kissen und eine Sommeruniform zu akzeptieren«, erklärte sie, denn sie wusste, wie unbehaglich Lew sich fühlte, wenn andere sich seinetwegen Mühe machten. Olga war in helle Aufregung geraten, weil der Ortssowjet »Zigeuner« in Lews altem Zimmer in der Kommunalwohnung am Leningrad-Prospekt untergebracht hatte. Sie war in einen Kampf mit den Behörden verwickelt, um das Zimmer von den »Zigeunern« zurückzuerhalten, die Lews Sachen in seinen Koffer gepackt und hinausgeworfen hatten. Olga befürchtete, dass er über den Verlust seiner Habseligkeiten erschüttert sein würde, doch Lew war nur an ein paar Fotos aus dem Besitz seiner Eltern interessiert. »Das Zimmer gehört mir nicht mehr«, hatte er seiner Tante geschrieben,
     
und Du brauchst Dich wegen meiner Sachen nicht zu beunruhigen. Es ist richtig, dass mir durch mein Urteil nichts von meiner Habe entzogen wurde und dass sie unser beider Eigentum seinsollte, aber nun ist es zu spät, etwas davon zurückzuerhalten. Und ich brauche es nicht. Wenn etwas übrig ist, dann bewahr es nicht für mich auf, sondern verkauf es, denn Du benötigst das Geld dringender als ich. Dinge sind so unwichtig im Leben eines Menschen. Sie sind keine Aufregung oder zerfledderte Nerven wert.
     
    Die materielle Lage war für alle in Moskau angespannt. Wegen der Lebensmittelknappheit waren die Läden leer, und sogar Grundbedarfsartikel wurden rationiert. Wie viele Moskauer überlebten Sweta und ihre Verwandten, indem sie Kartoffeln und anderes Gemüse auf einer vorstädtischen Parzelle anbauten, zu der sie sonntags mit der Metro und der Bahn fuhren. Im Frühjahr 1947 hatten sich die Bedingungen in Moskau so sehr verschlechtert, dass die Menschen fürchteten, hungern zu müssen. Diese Angst wurde durch Gerüchte über eine Hungersnot in der Ukraine verstärkt, wo Hunderttausende 1946/47 umkamen. »Was die Geschehnisse in der Ukraine angeht«, schrieb Sweta in einem Brief, der so explizit war, dass er die Zensur nicht passiert hätte, »so ertrage ich es einfach nicht, darüber nachzudenken.«
     
Die Menschen drängen sich in Züge nach Sibirien oder Belarus, aber dort gibt es nichts anderes als Kartoffeln. Man lässt keine Züge in Moskau einfahren, doch trotzdem sieht man in der Stadt Massen von Bettlern. Gut die Hälfte der Moskauer Bevölkerung ist nun noch schlechteren Verhältnissen als im Krieg ausgesetzt. Es schmerzt, all das zu beobachten, Ljowa. Jeder zählt die Tage bis zum Herbst und fragt sich, wie die Ernte ausfallen mag. Zurzeit ist daheim alles in Ordnung … Wir haben sechs Lebensmittelkarten für uns drei und brauchen überhaupt nicht auf den Privatmarkt zu gehen (das Einzige, was wir von einem Privathändler kaufen, ist jeden zweiten Tag Milch) … Gewiss, wir bekommen kein Fleisch zu Gesicht, aber schließlich existieren ja auch Vegetarier, und es heißt, dass sie häufig hundert Jahre alt werden. Schlechter sieht es mit unserem Einkommen aus: Papawerden 1300 Rubel gezahlt, und mein Gehalt beträgt 930 Rubel, doch das Geld verschwindet sehr rasch. 16
     
    Seit Beginn ihrer Korrespondenz hatten Lew und Sweta über das diskutiert, was sie verschlüsselt ihr »Minimum«- und ihr »Maximum«-Programm nannten, kurz die »Minimaxe«. Der erste Begriff bezog sich auf einen Antrag auf Versetzung in einen Teil des Gulag, wo Lew wissenschaftlich arbeiten konnte; der zweite war ehrgeiziger: ein Einspruch gegen Lews Urteil in der Hoffnung, es reduzieren oder sogar seine Entlassung herbeiführen zu lassen. Sweta war von Anfang an optimistisch gewesen. »Beide Möglichkeiten sind durchaus denkbar«, hatte sie am 28. August 1946 geschrieben. »Du hast von den Stalinpreisträgern Tupolew und Ramsin gehört, 17 aber es gibt viele andere Beispiele, die weniger gut bekannt sind.« Es stimmte, dass das MWD bemüht war, Wissenschaftler in den Arbeitslagern ausfindig zu machen und in Sonderbereiche der Sowjetwirtschaft zu verlegen, besonders in militärische Forschungsinstitute unter Gulagkontrolle. Das Problem war, dass die Lagerchefs gewöhnlich etwas dagegen hatten, ihre Wissenschaftler ziehen zu lassen, denn sie waren darauf angewiesen, dass diese Experten ihre Kraftwerke, Produktionslabors, Beleuchtungssysteme und so weiter betrieben. Lew wagte nicht zu hoffen, dass er mehr erreichen konnte als das, was ihm durch die Versetzung in die Elektrogruppe bereits gelungen war. Was das Maximum betraf, so hielt er es für ganz unmöglich. »Ich möchte nicht, dass Du Deine

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