Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
Arbeitslagers der Nord-Petschora-Eisenbahn in Abes hatte den Litwinenkos auf ihr Gesuch hin eine Genehmigung für drei Besuche von jeweils zwei Stunden erteilt, doch die Verwaltung des Holzkombinats ließ nur ein Treffen in Gegenwart eines Wärters im Wachhäuschen zu. »Das ist das Beste, was wir erreichen könnten«, erklärte Lew. »Mein Artikel würde nicht mehr rechtfertigen. Nikolai ist unter Artikel 58–1 (a) hier.« 19 Die Litwinenkos hätten »trotz eines Übermaßes an Schmiere« nicht mehr herausholen können. »Es kostete sie einen Riesenbetrag.« Lew konnte dem Besuch der Litwinenkos nichts Positives für Sweta abgewinnen:
Alles war sehr teuer für sie, besonders die Unterbringung. Immerhin haben sie eine Menge Geld, so dass es keine große Belastung war. Ich sah sie, als ich zur Wache ging und so tat, als hätte ich etwas Dienstliches zu erledigen. Seine Mutter ist recht jung, doch dünn. Sie sagte allerdings, es gebe nicht viele Menschen in Kiew, die so mollig wie sie seien; Molligkeit sei dort selten anzutreffen [ein Hinweis auf die Hungersnot]. Es ist traurig, solche Treffen als Dritter zu beobachten, Sweta. Man kann verstehen, warum Anton Franzewitsch 20 seiner Frau letztes Jahr schrieb, dass er, wenn sie trotz seiner gegenteiligen Bitten komme, zu dem Treffen nicht erscheinen werde. Ja, Gott sei mit ihnen. Lassen wir das Thema fallen, bis bessere Zeiten beginnen.
Lew war so bedrückt und reagierte so entmutigend auf Swetas Besuchspläne, dass man fast glauben konnte, er habe Angst, sie zu sehen. Vielleicht hatte er seine eigenen Befürchtungen zum Ausdruck gebracht, als er einwandte, dass ein Treffen ihr möglicherweise keine Genugtuung verschaffen, sondern den Schmerz der Trennung nur noch verschlimmern werde.
Während Lew deprimiert über die Erfahrung der Litwinenkos war, wurde Sweta durch eine weitere Besucherin von Petschora in ihren Plänen bestätigt. Gleb Wassiljews Mutter Natalia Arkadjewna sollte ihren Sohn Mitte Juni zum zweiten Mal in Petschora besuchen. Auf ihrer vorherigen Reise, im Jahr1946 , war es ihr gelungen, mehrere ungestörte Stunden mit ihrem Sohn zu verbringen, wie Lew in seinem Brief vom 1. März erklärte. Natalia Arkadjewna war zuversichtlich, ihren Erfolg wiederholen zu können. Bevor sie nach Petschora aufbrach, besuchte sie Lews Tante Olga, die darangedacht hatte, Natalia Arkadjewna zu begleiten, bis sie, zu Lews großer Erleichterung, von ihrem Arzt davon abgebracht wurde (eine Tatsache, über die Sweta, wie Olga wünschte, Lew nicht informieren sollte). Seit mehreren Wochen hatte Olga ihre Reisepläne mit Sweta erörtert. Sweta stimmte Lew zu, dass es unsinnig sei, wenn Olga glaube, die Reise bewältigen zu können, denn schließlich verlor sie schon die Nerven, wenn sie nur Moskau mit der Metro durchqueren musste. Allerdings meinte Sweta, dass es klug von Olga gewesen sei, sich mit einer so »erfahrenen Reisenden« wie Natalia Arkadjewna zusammenzutun. Zu dem Zeitpunkt, als Glebs Mutter zum Aufbruch bereit war, hatte Sweta von Olga so viel über die geplante Reise erfahren, dass sie selbst eine große Aufregung verspürte: Jemand, den sie – wenn auch nur indirekt – kannte, würde Lew bald zu Gesicht bekommen.
Sweta sehnte sich nach Lew. Am Wochenende des 7. und 8. Juni schrieb sie ihm einen Brief, den Glebs Mutter ihm in die Hand drücken würde. Sie begann am Samstag:
Ljowa, Glebs Mutter hat O. B. [Tante Olga] besucht und gesagt, sie werde am Mittwoch [nach Petschora] abreisen. Hier bin ich nun und weiß nicht einmal, was ich Dir schreiben soll. Dass ich Dich vermisse? Aber das weißt Du ja. Ich habe das Gefühl, außerhalb der Zeit zu leben, darauf zu warten, dass mein Leben weitergeht, wie nach einem Filmriss. Was ich auch tue, kommt mir so vor, als schlüge ich bloß die Zeit tot. Ich weiß, dass das nicht gut ist. Bewusst oder unbekümmert Zeit zu verschwenden ist einer starken Person unwürdig. Außerdem ist es ein fataler Fehler, denn man kann verlorene Zeit nie zurückholen. Ich muss leben und darf nicht einfach nur warten. Sonst könnte ich, wenn das Warten vorbei ist, möglicherweise außerstande sein, unser gemeinsames Leben aufzubauen.
Ich habe immer unter dieser Furcht gelitten, der Furcht, dass Liebe nicht genügt. Man muss fähig sein, zu lieben, aber auch zusammenzuleben, und das in dieser Welt, die wahrscheinlich immer grausam sein wird. Mir scheint jedoch, dass ich trotz der vergehenden Zeit weder stärker noch
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