Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
intelligenter geworden bin. Immerhin gerate ich nicht mehr so schnell aus der Fassung, wenn es um meine eigene Dummheit geht oder darum, dass ich den Menschen, die ich liebe, treu bin, egal, wie weit sie von mir entfernt sind, was mich in der Vergangenheit bewogen hat, mich selbst und andere zu quälen (auch Du musstest darunter leiden). Ich habe eine Menge H²O wegen solcher albernen Probleme verloren. Mir scheint, dass ich nicht stark bin, wenn ich warten muss oder zornig bin. Deshalb habe ich nun nicht mehr das Gefühl, fest auf eigenen Beinen zu stehen. Ich muss mich auf Dich stützen – im Kummer wie in der Freude. Wir müssen dies gemeinsam durchstehen, Arm in Arm gehend wie früher – obwohl ich glaube, dass ich mich damals nicht auf Dich gestützt habe. Ich war nicht schwer an Deinem Arm. Habe ich recht? Es ist nicht freundlich von mir, dies zu schreiben, Dich um etwas zu bitten, das Du mir nicht geben kannst, das Dir nur Schmerz bereiten wird. Aber ich bin müde, nicht nur heute, sondern im Allgemeinen. Ich brauche eine »Stütze«, selbst wenn ich sie nur durch diese Briefe erhalte (die ein Gespräch zwischen uns sind). Aber, Ljowa, Du darfst Dich nicht beunruhigen. Letzten Endes sind wir beide glücklicher als viele andere – glücklicher als diejenigen, die überhaupt keine Liebe kennen, und als diejenigen, die nicht wissen, wie sie Liebe finden können. Ich hoffe, Du wirst hieraus klug.
Wenn ich müde bin, werde ich kratzbürstig, »unrasiert im Innern«, wie Irina [Krause] es ausdrückt, und dann weiß ich nicht, wie ich Unterstützung bei den Menschen finden kann, die mir nahestehen. Ich weiß nicht, was ich von ihnen will. Dabei erwarte ich nicht etwa, dass sie mich verstehen oder etwas unternehmen, sondern ich weiß selbst nicht, welche Frage ich stellen soll. Ich bleibe stumm, doch aktiv stumm, was bedeutet, dass ich mich in mich selbst zurückziehe. Sogar Schurka [Alexandra Tschernomordik] besuche ich zurzeit nur zweimal die Woche, und ich habe Irina verärgert, weil ich am Sonntag nicht bei ihr gewesen bin (sie hat mir verziehen, als ich sagte, ich sei erschöpft). Vorgestern war es noch schlimmer, denn sie fragte mich nach Dir und ich schüttelte nur den Kopf. Gestern war es nicht besser – nach dem Konzert, als ich vor allen davonrannte. Siehst Du, ich kann auch unbesonnen und gemein sein, und obwohl ich es begreife und bedaure, weiß ich nicht, wie ich es wiedergutmachen soll. Deshalb habe ich Angst, dass ich eines Tages, wenn ich mich schlecht fühle (und sei es nur aus Müdigkeit), Dir nichts davon sagen, sondern nur blaffen und mich dann zurückziehen werde. Wenn das geschieht, Ljowka, dann musst Du wissen, dass ich nicht böse auf Dich bin. Lass nicht den Mut sinken und quäle Dich nicht, sondern warte einfach, bis ich mich ordentlich ausgeruht habe. Versprichst Du mir das?
Was ich hier geschrieben habe, kommt mir nicht allzu klug vor, aber schließlich möchte ich nicht, dass Du eine übertrieben gute Meinung von mir hast (ein bisschen davon reicht aus). Nun, Ljowa, werde ich ins Bett gehen, bevor ich noch mehr Unsinn schreibe. Das Gute ist, dass ich, nachdem ich vorher ein bisschen geweint habe, diesen Brief nun, ich schwöre es, mit einem Lächeln beenden werde, mein Schatz, mein lieber Ljowa.
Dies war das erste Mal, dass Sweta das Thema ihrer Depression eingehender berührte, wenngleich sie diese nicht als solche benannte. Sie konnte ihre Symptome präzise beschreiben, nämlich ihre Neigung, zu »blaffen und sich dann zurückzuziehen«, doch sie hatte keine Bezeichnung dafür. In der UdSSR, dem »glücklichsten Land der Welt«, wurde Depression nicht öffentlich anerkannt oder diskutiert.
Am folgenden Morgen setzte sie den Brief fort:
Zu meinem Besuch bei Dir, Ljowa. Ich bin sehr besorgt wegen meiner Unwissenheit darüber, wohin ich gehen und an wen ich mich wenden sollte. Würdest Du Gleb bitten, seine Mutter zu fragen, ob sie nach ihrer Rückkehr mit mir Verbindung aufnehmen kann? (Das heißt, zuerst mit mir und nicht mit O. B. [Tante Olga], die sie ohnehin aufsuchen wird.) Sie soll irgendwann Anfang oder Mitte Juli zurückkehren, und ich könnte dann, wenn nötig, sogar die Stadt verlassen, um mich mit ihr zu treffen, obwohl ich im Moment keinen Urlaubsanspruch habe. Ich möchte im Juli (jedenfalls nicht in der ersten Hälfte) um keinen Urlaub bitten, da ich mich emotional und finanziell auf die Reise vorbereiten muss, und ich würde dann versuchen, hier
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