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Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Titel: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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überlassen. Trotzdem existiert dieses wenige, und auch das ist eine Tatsache. Du solltest Dich darin üben, Dir Enttäuschungen nicht so sehr zu Herzen zu nehmen, und Deine Bemühungen trotzdem nicht aufgeben. Ich weiß, das ist leichter gesagt als getan. An Deiner Stelle würde ich auch die Hand nicht heben, und deshalb dränge ich Dich jetzt nicht und möchte nicht beharren, sondern nur versuchen, Dich sanft zu überzeugen. Können die Dinge sich wirklich verschlimmern, wenn wir Anträge stellen? Wenn nicht, Ljowa, würdest Du dann vielleicht bereit sein, das erneut zu ertragen, was Du schon einmal durchmachen musstest?
     
    Sweta zog es vor, auf das »Maximum« zu hoffen und sich aktiv für das »Minimum« einzusetzen – eine Strategie, die der Direktor des FIAN unterstützte. Er versprach, eine Referenz für Lew abzugeben. »Vielleicht irre ich mich«, schrieb Sweta, »aber war es in den letzten Jahren nicht leichter für Dich, mit Hoffnungen und Träumen als ohne sie zu leben?«
    Doch Lew hatte das letzte Wort. »Ich habe einmal beiläufig einen gewissen Boris German erwähnt, einen Chemiker vom Charkower Institut und Galvanisierer von Beruf, der darum bat, auf seinem Spezialgebiet beschäftigt zu werden«, schrieb er am 28. Juni.
     
Kurz darauf riefen sie ihn ins Durchgangslager (nicht weit von uns, in der Nähe des Bahnhofs Petschora). Dort marinierte er mehrere Wochen Fisch, bis sie ihn schließlich »versehentlich« nach Workuta schickten. Nach ein paar Wochen allgemeiner Arbeit (Kohlebergbau am Polarkreis) kehrte er zurück ins Durchgangslager, von wo man in erneut »versehentlich« nach Chalmer-Ju entsandte (einem Streckenbaulager an der Küste [des Nordpolarmeers]), einem Ort, an dem es keine Spur von Galvanisierern gibt. Auf beiden Konvois wurde er wie üblich ausgeraubt, und als ihn ein Bekannter zum letzten Mal im Durchgangslager sah, war er nicht mehr annähernd so kräftig wie zuvor. Niemand weiß, wo er sich heute aufhält. Er versprach, so bald wie möglich zu schreiben, doch bis jetzt ist keine Nachricht von ihm eingetroffen. Ein Freund von Anissimow, ein gewisser Kusmitsch, erlitt offenbar das gleiche Schicksal. Auch er wurde zu »besonderen Aufgaben« herangezogen und verschwand von der Bildfläche. Die Veteranen sagen, das sei Brauch, und wer es am schnellsten »schaffen« wolle [das Endstadium der Erschöpfung zu erreichen], brauche nur um Versetzung zur Arbeit in seinem Beruf zu bitten. Nachdem ich das gehört hatte, zerriss ich mein Antragsformular an das Gulag-MWD, das ich in einem Anfall von Optimismus ausgefüllt hatte … Also, lass uns die Sache nun vergessen.
     
    Sweta fand sich damit ab, dass Lew im Holzkombinat bleiben würde, und begann etwas viel Kühneres als jegliches »Maximum« oder »Minimum« zu planen: eine geheime Reise, um Lew in Petschora zu besuchen.
     
    16 Der monatliche Durchschnittslohn eines Fabrikarbeiters in Moskau belief sich auf ungefähr 750 Rubel.
     
    17 Andrej Tupolew (1888–1972), der sowjetische Flugzeugkonstrukteur, wurde 1937 verhaftet und arbeitete in einem geheimen NKWD -Forschungs- und Entwicklungslabor. 1943 wurde ihm der Stalinpreis verliehen. Leonid Ramsin (1887–1948) war ein sowjetischer Heizungsingenieur, der zwischen 1930 und 1936 im Gulag einsaß. Auch ihm wurde 1943 der Stalinpreis verliehen.

6
     
    Sweta hatte den Gedanken an ein Treffen bereits in ihrem allerersten Brief angesprochen. »Ich weiß, Du wirst tun, was Du kannst, damit wir zusammenkommen, bevor weitere fünf Jahre vergehen«, hatte sie am 12. Juli 1946 geschrieben. Lew dagegen war von Anfang an pessimistisch. »Du erwähnst ein Treffen«, hatte er erwidert. »Swetka, es ist fast unmöglich. 58–1 (b) ist eine schreckliche Ziffer.«
    Lew hatte recht. Nur höchst selten erhielt ein Häftling eine Besuchserlaubnis, und dann auch nur für ein Familienmitglied oder einen Ehepartner. Solche Begegnungen wurden unter außergewöhnlichen Umständen als Belohnung für »gute, engagierte Arbeit mit hohen Ergebnissen« zugelassen, und die Aussicht auf einen Besuch war für die Häftlinge ein mächtiger Anreiz, sich vorbildlich zu benehmen. Doch wenn ein Treffen tatsächlich stattfand, erwies es sich oft als enttäuschend, da es lediglich ein paar Minuten – noch dazu in Gegenwart eines Wärters – dauerte. Es war schwierig, ein intimes Gespräch zu führen, und Zärtlichkeiten waren verboten. Nach Besuchen durch ihre Ehefrauen waren Häftlinge »ausnahmslos still und reizbar«,

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