Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
als früher bin, und wenn ich dünner war, dann im letzten Sommer. Andererseits wirkt mein Gesicht verkniffen, was mir wirklich nicht steht und viele seufzen und ausrufen lässt: »Was fehlt dir denn?« Sowohl in meiner Gegenwart als auch hinter meinem Rücken spricht man darüber, wie ich vor meiner Reise nach Chromnik 24 (»ein faszinierendes Mädchen«) ausgesehen hätte und welchen Eindruck ich nun machte (womit natürlich angedeutet wird, dass ich alt und zottig, dass ich eine Greisin geworden sei).
Lew war der Einzige, mit dem sie über ihre Gefühle reden konnte. Im Februar1948 , ein paar Wochen nach ihrer Rückkehr aus Petschora, schrieb sie ihm:
Mein geliebter Ljowa, ich möchte so gern bei Dir sein, aber ich habe nicht einmal einen Brief von Dir bekommen. Ich versuche, zur Oberfläche vorzudringen und meinen Zorn zu unterdrücken. Die beiden Worte »kann nicht« sind wieder in meinemVokabular aufgetaucht. Ich kann es nicht ertragen, Menschen vor mir zu sehen, die nicht glücklich sind, wenn sie objektiv alles haben, was sie für ihr Glück brauchen. Ich kann kein Mitgefühl für sie aufbringen; ich kann nicht aufhören, bissig oder ungeduldig zu sein. Irina rief mich am Samstag an und lud mich ein, Lossinka zu besuchen, aber ich lehnte ab. Ich kann den Trost nicht annehmen, den Freunde spenden. Ich brauche alles oder nichts. Wieder einmal sind die Dinge schwarz oder weiß. Doch all die vielen Fälle von »kann nicht« lassen sich mit einem einzigen »Ich möchte« erklären. Alles in meinem Innern verhärtet sich, und ich kann nichts daran ändern. Deshalb reagiere ich abweisend auf Irinas Vorschlag, lege den Hörer auf und fange danach an zu weinen.
Die Briefe an Lew waren ein Ventil für ihre Depression. Er hatte Verständnis für ihre Stimmungen. »N. A. [Glebs Mutter] hat vor ein paar Tagen angerufen und wollte wissen, ob es mir gutgehe. Ich verbarg meinen Kummer und sagte, alles sei in Ordnung«, schrieb sie Lew am 2. März.
Aber in Wahrheit weiß nicht einmal ich, was ich in meiner verzweifelten Stimmung mit mir anfangen soll. Ljowa, mein Liebling, wenn ich manchmal scheußliche Briefe schreibe, so weiß ich doch, dass ich kein Recht dazu habe, aber mit wem sonst außer Dir kann ich denn weinen? Sobald ich Dir schreibe, lässt meine Spannung nach. Also noch einmal, Ljowa, sei nicht ärgerlich, wenn Du solch einen Brief erhältst. Ohnehin ist meine Laune, wenn Du ihn endlich erhältst, wahrscheinlich vergangen, und ich hüpfe vor Freude herum. Verstehst Du mich, mein Liebling? Ich beabsichtige nie, Dich durch meine Briefe zu verärgern oder Deinen Schmerz zu verschlimmern. Nun weine ich seit mehreren Tagen hintereinander, nicht nur bevor ich einschlafe, sondern auch wenn ich frühmorgens aufwache, vor dem Mittagessen und danach. Das Wichtigste, Ljowa, das Allerwichtigste – Du weißt ja selbst, was es ist …
Ljowa, ich hoffe, dass wir uns nie schuldig voreinander fühlen und einander in wichtigen Dingen alles verzeihen werden und dass wir, wenn es unwichtig ist, versuchen, nicht zornig zu sein (obwohl gewöhnlich gerade diejenigen, die uns am nächsten stehen, am meisten zu erdulden haben).
Sweta wollte Lew nicht mit dem Gedanken belasten, dass ihre Depression irgendetwas mit seiner Inhaftierung zu tun haben könnte. Für ihn gab es schon genug zu bewältigen. Und ihr war klar, dass sie stark bleiben musste, um ihm durch die kommenden Jahre zu helfen. In vielen ihrer Briefe sprach sie von anderen Gründen für ihre Mutlosigkeit. »Eine Depression hat mich übermannt, und ich warte auf ihr Ende«, schrieb sie ihm. »Ich weiß nicht, warum der Januar so schwierig ist – vielleicht weil es (durch Mamas Geburtstag, Weihnachten und Neujahr) einmal der fröhlichste Monat war. Vielleicht weil ich mich schon seit vor der Jahreswende unwohl fühle. Ich werde gereizt und bin dauernd müde.« Dabei hatte ihre Depression nichts mit dem Geburtstag ihrer Mutter zu tun, sondern einzig und allein mit der Tatsache, dass Lew und sie voneinander getrennt waren, wie sie manchmal zwischen den Zeilen verriet:
Nachdem ich alle möglichen Pillen geschluckt habe (in einem realen, nicht in einem übertragenen Sinn), habe ich vergessen, wie man weint (ich bin also vorbereitet, falls ich eine bittere Pille im übertragenen Sinn schlucken muss). In letzter Zeit schlafe ich schlecht, möglicherweise weil unser Zimmer so stickig ist – draußen ist es nachts kalt, und Papa hat Angst vor
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