Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
Leberproblem die wahrscheinlichste Erklärung sei. Sie schickte Strelkow eine Reihe Medikamente, ein paar Sonden, damit er Proben von seiner Gallenflüssigkeit entnehmen konnte, sowie Ernährungsratschläge. Auch versprach sie, ihm getrocknetes Weißbrot zukommen zu lassen.
Ljubomir Terlezki, Lews Kojengenosse, war ebenfalls krank. Als Folge seines achtjährigen Aufenthalts im Arbeitslager litt er an Skorbut und war psychisch gebrochen. »Ljubka ist trübsinnig und spricht kaum«, schrieb Lew an Sweta. »Er hat Angst vor Schönheit und will sie weder in der Natur noch in Büchern sehen, weil sie ihn an sein Zuhause erinnert.« Zur Bekämpfung des Skorbuts schickte Sweta Tütchen mit Vitamin-C-Pulver, und allmählich kam Terlezki wieder zu Kräften. Die lähmenden psychischen Auswirkungen des Lagerlebens waren jedoch weiterhin unübersehbar. »Mein Ljubka kehrt ganz langsam in die Zivilisation zurück«, meldete Lew.
Heute habe ich ihn gefragt, warum er immer so schreckliche Grimassen schneidet, wenn er jemandem die Hand schüttelt, und warum er andere so linkisch begrüßt. Mit etwas verlegener Miene entgegnete er, er habe sich in den letzten acht Jahren daran gewöhnt, dass niemand je Hallo oder Auf Wiedersehen sagt, sondern bloß Flüche murmelt und die Hände nur dazu benutzt, jemanden zu schlagen. Deshalb ist er nie sicher, ob jemand, der ihm die Hand zur Begrüßung hinhält, es aufrichtig meint. Er selbst streckt die Hand aus, als vollziehe er einen mittelalterlichen Akt der Ehrerbietung. »Aber ich ertappe mich dabei«, sagt er, »und manchmal gelingt es mir, nicht so furchtsam zuerscheinen.« Mit etwas Glück wird er Menschen in einem Jahr wieder normal begrüßen.
Im Mai 1948 kam Alexandrowitschs Frau Tamara, die gleichfalls erkrankt war, nach Moskau, um einen Arzt aufzusuchen. Sweta half ihr in der Hauptstadt und gab ihr vor ihrer Rückkehr nach Petschora einen Karton mit Medikamenten mit, die sie für Lews Freunde gesammelt hatte.
Indessen fühlte auch Sweta sich unwohl. Sie magerte ab, schlief schlecht, war reizbar und weinerlich – durchweg klare Anzeichen von Depression. Allerdings sprach niemand in der Sowjetunion über solche Dinge, denn Optimismus war obligatorisch, und wer Probleme hatte, sollte sich am Riemen reißen. Die Familie Iwanow war mit vielen Ärzten befreundet, und Sweta suchte etliche von ihnen auf. Alle nahmen an, dass das Ganze körperlich bedingt war. Sie untersuchten Swetas Blut, glaubten, eine Entzündung der Schilddrüse entdeckt zu haben, und schickten sie zu Endokrinologen, die Jod und Phenobarbital verschrieben, doch niemand erkundigte sich nach ihrem emotionalen Befinden. Sweta wusste nicht, was sie von den Meinungen der Ärzte halten sollte. Sie war unsicher, ob ihr physisch etwas fehlte. Sie wusste nur, dass sie sich unwohl fühlte und auch so aussah. An Lew schrieb sie:
Die Endokrinologin sagte, sie sei überzeugt, dass sich meine Schilddrüsentätigkeit erhöht habe (Kopfschmerzen, Fieber, Herzstechen, Gewichtsverlust, Nervosität etc., etc., darunter irgendein seltsames Glänzen in meinen Augen – meiner Ansicht nach hat das nur mit dem Fieber zu tun). Ich wäre mit solch einer Diagnose zufrieden, denn ich kann Ungewissheit nicht leiden. Sie hat mir reine Jodtabletten verschrieben, die mit Jodsalz, Phenobarbital, Brom, Kampfer und Baldrianextrakt eingenommen werden sollen. All das muss ich 20 Tage fortsetzen, dann habe ich eine Pause von 10 Tagen, bevor ich die Medikamente weitere 20 Tage nehme und die Endokrinologin erneut aufsuche. Alles schön und gut, abgesehen davon, dass es zurzeit keinenBaldrian gibt und ich deshalb nicht mit der Behandlung beginnen kann. Heute ging ich erneut zu unserem Arzt, gab ihm die Testergebnisse und erzählte ihm von meinem Besuch bei der Endokrinologin. Er war wirklich überrascht über meinen BSG-Wert 23 . Wahrscheinlich dachte er, all meine Unpässlichkeiten hätten nervliche Ursachen, aber Nervosität allein erhöht den BSG-Wert nicht. Über die Rezepte der Endokrinologin äußerte er sich recht herablassend: »Es wird Ihnen guttun, sie zu nehmen, aber meiner Ansicht nach ist das nicht das Wichtigste.« (Er sagte nicht, was sonst.) »Ich rate Ihnen, bis zum Sommer Lebertran zu nehmen.« (Und wenn das nicht hilft?) Ich kann keine Waage finden und deshalb nicht objektiv feststellen, ob ich wirklich weniger wiege oder ob mein Gewichtsverlust nur der subjektiven Meinung anderer entspricht. Mir scheint, dass ich nicht dünner
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