Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
deshalb dünner geworden, aber er ist keineswegs mager. Sein körperlicher Mut und seine Selbstbeherrschung verbessern sich allmählich … [Er] erhält A’s für Russisch und Rechnen, doch B’s für Leibesübung. Wie ich Dir schon geschrieben habe, versteht er vollauf, dass 1 / 7 weniger als 1 / 5 ist, und nun hat Lera [aus seiner Schule] ihm beigebracht, Brüche (nicht zu schwierige) von ganzen Zahlen abzuziehen. Jetzt fängt er auch an, sich für Technik zu interessieren. Dauernd versucht er, Dinge auseinanderzunehmen und hineinzuklettern oder sie wieder zusammenzusetzen. Für seinen Ordnungssinn ist er nicht bekannt, aber ich habe keine Ahnung, wie man ein Kind »erziehen« muss.
Swetas Mutter Anastasia hatte ihr tatsächlich vorgeschlagen, als Kindergärtnerin zu arbeiten. Sie zweifelte an ihren eigenen Fähigkeiten als Wissenschaftlerin, und ihre Mutter meinte, sie würde glücklicher sein, wenn sie mehr Zeit mit kleinen Kindern verbrachte. Lew unterstützte den Gedanken, doch Sweta entschied sich letztlich dagegen, weil es ihr an Erfahrung als Mutter fehle und sie nicht wisse, »wie Kinder heranwachsen«.
Trotzdem war Sweta entzückt, wenn Alik sich bei ihr aufhielt. Seine Ungezogenheit erinnerte sie an ihre eigene Kindheit.
Alik ist imstande, mich um 6 Uhr zu wecken (natürlich nachdem er selbst sich gut ausgeschlafen hat). Er macht gern Krach, vergisst, sich die Hände zu waschen, spielt fröhlich mit einem Fahrrad, das die meiste Zeit auf dem Kopf steht, und klettert in voller Bekleidung in den Waschbottich mit der Seifenlauge. Ich weiß nicht, ob ich besorgt und wütend wäre, hätte ich selbst mich als Kind artig verhalten, aber ich erinnere mich nur zu gut daran, wie wir unsere Wohnung nutzten: Alle Stühle wurden umgestoßen, und wir krochen unter den Betten und Tischen herum. Und niemand brüllte mich an – nicht einmal als ich herumhüpfte und mir den Zahn am Kopfende des Bettes abbrach oder mir den Kopf am Heizkörper zerschrammte (Jara wurde manchmal gescholten, ich jedoch nicht). Weißt Du, ich bin eine ziemlich schlechte Ratgeberin und Tagesmutter, denn ich verlasse mich auf die Vererbung und den natürlichen Lauf der Dinge, weil ich es einfach nicht für möglich halte, dass etwas wirklich Schlimmes aus etwas so Kleinem und Prächtigem erwächst. Am bedauerlichsten ist jedoch, dass ich als Tagesmutter eine »Theoretikerin« bin, weit entfernt von praktischer Erfahrung.
Zufällig spielte auch Lew damals die Rolle eines »Beraters und Kinderhüters«. Am 5. Oktober, dem Tag, als Sweta aus Petschora nach Moskau zurückkehrte, hatte Lew eine Besucherin empfangen.
Ein kleines Mädchen kam ins Kraftwerk, und ich fragte: »Bist du hier, um uns zu besuchen?« »Ja.« »Gut, dann los.« Sie betrachtete Nikolai Bogdanow [einen Mechaniker im Kraftwerk] argwöhnisch und wollte dann von mir wissen: »Warum bist du denn nicht schmutzig?« Daraufhin zerrte sie mich an meinem Gürtel durch den Generatorraum und wollte wissen, ob die Maschinen sich ausruhten und warum überall so viele Uhren seien und ob es Licht gebe, wenn die Hochöfen nicht beheizt würden.Wir freundeten uns rasch an, und ich erfuhr, dass sie Tamara Kowalenko heißt, aus der Region Winniza hierhergekommen ist und dass ihr Vater im Stall arbeitet.
Tamara war elf Jahre alt. Sie hatte eine ältere Schwester namens Lida und einen jüngeren Bruder namens Tolik (Anatoli). Es waren zerlumpte Kinder ohne Schuhe, vernachlässigt von ihrer Mutter, die als Wäscherin arbeitete, und stets hungrig, weil ihr Vater den größten Teil des Haushaltseinkommens für Wodka ausgab. Die Kowalenkos gehörten zu den 500 »Sonderaussiedlern« im Holzkombinat, von denen viele in den Baracken der 1. Kolonie knapp außerhalb der Gefängniszone wohnten. Kinder wie Tamara durften jedoch frei im Arbeitslager herumlaufen. Sie wurden nie von den Wärtern angehalten oder durchsucht, so dass sie Botengänge für die Häftlinge machen konnten, die ihnen Süßigkeiten oder Geld gaben oder für sie Holzspielzeug in den Werkstätten anfertigten. Die Ortskinder suchten häufig nach Spielzeug am Rand der Gefängniszone, wo Häftlinge solche Gegenstände manchmal über den Zaun warfen. Diese anonymen Geschenke waren in vielen Wohnungen in der Umgebung des Arbeitslagers zu finden. Sie erinnerten an die Sehnsucht der Insassen nach den eigenen Kindern und trugen ihnen menschliches Mitgefühl ein.
Tamara begann, Lew jeden Tag zu besuchen. Er gewann sie lieb,
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