Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
mit einervielversprechenden Karriere vor seiner Verhaftung im Jahr1938 , war ein starker Trinker, tieftraurig über den Tod einer Tochter und häufig voller Selbstmitleid angesichts des Verlusts seiner Karriere, nach Lews Meinung aber »gutmütig« und »kultiviert«. Alexandrowitsch wohnte mit seiner Frau Tamara in der Siedlung innerhalb der Industriezone. Er gehörte zu den freien Arbeitern, die Briefe für Lew hinein- und herausschmuggelten. Zuweilen gab er Lew Geld für Kleidung und Haushaltsgegenstände, die Sweta aus Moskau schickte. Als Alexandrowitsch zum Kraftwerk im Ort überwechselte, redete er Lew zu, mitzukommen, doch dieser lehnte das Angebot ab, denn »hier ist es sicherer für mich«, wie er Sweta erklärte. Er mochte den neuen Chef Arwanitopulo, der nach seiner Einschätzung »intelligent, sympathisch, nicht zu gebildet und vernünftig« war. Zu jenem Zeitpunkt schickten die Gulagbehörden Häftlinge in die abgelegene 4. Kolonie, die gerade in den nördlichen Wäldern eingerichtet worden war. Lew wollte auf keinen Fall für einen dieser Konvois ausgewählt werden, und er glaubte, auf seinem gegenwärtigen Posten weniger von einer Versetzung bedroht zu sein.
»Im Werk ist es zu einigen Änderungen gekommen«, schrieb er Sweta. »Man verlegt Leute zur 4. Kolonie, wo sie an der dorthin führenden Straße (15 Kilometer) Bäume abholzen und Bauarbeiten durchführen müssen. Hier treffen in immer größerer Zahl Frauen ein, um sie zu ersetzen. Sie werden der 3. Kolonie zugewiesen, und manche arbeiten bereits in den Werkstätten.« Es war lange her, seit er derart viele Frauen gesehen hatte – die Lager, in denen er während des Krieges gewesen war, hatten jeweils eigene Bereiche für weibliche Gefangene gehabt –, und die Tatsache, dass sie manuelle Arbeit leisten mussten, machte »einen beunruhigenden Eindruck« auf Lew. Seine Einstellung zu Frauen war immer noch von der Verehrung und romantischen Ritterlichkeit der Vorkriegsjahre geprägt. Die Gespräche mit diesen weiblichen Häftlingen bedrückten ihn noch mehr. »Viele der Frauen, die hier angekommen sind, reden voller Schrecken über die Orte, an denen sie vorher waren [andere Arbeitslager und Verbannungskolonien]«, berichtete er Sweta. »Die wenigen, die ohne Angst an diese Orte zurückdenken können, lösenihrerseits beim Beobachter wenn nicht Furcht, so doch ein eindeutiges Unbehagen aus. Es ist ein derart betrüblicher Anblick.«
Auch Sweta fühlte sich nach ihrer Rückkehr aus Petschora entmutigt. Vielleicht litt sie unter den emotionalen Auswirkungen der Begegnung mit Lew – unter den Konsequenzen, vor denen er sie gewarnt hatte, als er sie fragte, ob es ihr ein Treffen nicht noch schwerer machen würde, »dort glücklich zu sein, wo andere glücklich sind«.
Sweta versuchte, mit der Trennung fertig zu werden, indem sie sich in ihre Arbeit stürzte, obwohl ihr Interesse daran begrenzt war. Sie inspizierte Fabriken in Tbilissi und Jerewan, war bei den Bezirkswahlen zum Moskauer Sowjet aktiv, hielt Reden auf Gewerkschaftskonferenzen, gab die Wandzeitung des Instituts heraus, übernahm die Ausbildung neuer Forscher, schrieb an ihrer Dissertation, übersetzte Artikel, besuchte Französisch- und Englischstunden, sang in einem Chor, übte Klavierspielen und organisierte einen Mathematikclub. Lew fiel es schwer, sich Sweta unter all diesen neuen Umständen vorzustellen. »Wenn ich an Dich denke«, schrieb er am 3. Februar1948 , »und ich denke in jeder freien Minute an Dich, sehe ich Dich nur in gewissen Situationen klar vor mir«:
Wie Du, nachdem Du Dir etwas überlegt hast, plötzlich aufblickst, um zu antworten. Wie Du dasitzt, wenn Du mit jemandem sprichst. Wie Du schläfst (das ist etwas, das Du selbst Dir nicht einmal annähernd ausmalen kannst!). Wie Du Dein Haar flichtst (ein Geschick, das mir unbegreiflich ist). Aber ich kann mich kaum an Deine Stimme erinnern – nur gelegentlich an Dein Lachen und an bestimmte Wendungen und Deinen Tonfall. Die Furcht hindert meine Fantasie daran, Dich mit einer unvertrauten Umgebung zu verbinden – die Furcht, dass etwas nicht ganz richtig sein wird, nicht so wie in der Realität, sondern schlechter.
Sweta hatte eine Menge Nachrichten für Lew. Im Dezember hatte die Regierung den Rubel um neun Zehntel abgewertet und dieRationierung beendet. Plötzlich beeilten sich alle, Waren noch mit dem alten Geld zu kaufen, was in sämtlichen Geschäften lange Schlangen verursachte, doch allmählich
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