Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
zumal er damit rechnete, dass die Politischen, also auch er selbst, als Erste für einen Konvoi ausgewählt werden würden, möglicherweise »innerhalb der nächsten Tage«. Am 25. Juni riet er Sweta, keine weitere Reise nach Petschora zu planen, und bat sie, ihm über Alexandrowitsch zu schreiben, falls er fortgeschickt wurde.
Tja, Swetischtsche, hier sind ein paar Instruktionen angesichts kommender Ereignisse: Brich in Deinem Urlaub nicht zu einer Reise auf. Denk nur daran, hierherzukommen, falls eine Dienstreise keine besonderen Anstrengungen erfordert – immer vorausgesetzt, dass überhaupt eine stattfindet. Ab übermorgen werden die Erfolgschancen auf praktisch null sinken. Anscheinend sollen alle, die nach dem schwersten Artikel [58] verurteilt worden sind – außer denen, die »allgemeine« Arbeit verrichten –, von ihren Posten entlassen und in die 3. Kolonie (am Fluss) umgesiedelt werden, die nun ein »verstärktes Regime« erhalten soll. 30 Es wird ganz unmöglich für Dich sein, auch nur kurze Zeit in der Industriezone (wo wir im Moment arbeiten) unterzukommen. Es könnte nur dann geschehen, wenn eineindividuelle Ausnahme gemacht wird. Aber ich wiederhole: Die Wahrscheinlichkeit ist praktisch null – diesmal wird es viel schwieriger werden … Am besten wäre es, wenn Du gar nicht erst versuchst, mich zu besuchen. Hörst Du mir zu, Swete? Tu, was ich Dir sage. Akzeptiere dies als meine endgültige Entscheidung … Einverstanden, Swet? So ist es eben. Was die Zukunft anbelangt, sollten wir später darüber sprechen, denn zurzeit können wir nur vermuten, was geschehen wird … Für den Fall, dass Du sie benötigst, werde ich Dir in ein paar Tagen eine neue Adresse schicken, wenn »Sch[aba]« [Alexandrowitsch] eine neue Stelle bekommt. Aber benutz sie nicht zu oft. Vorläufig wird sie funktionieren. Noch etwas, Swetischtsche. Du darfst diesen Brief nicht aufbewahren – deshalb hat er keine Nummer. Und lass mich wissen, ob Du ihn erhalten hast – schreib einfach, der vom 25. ist eingetroffen.
Sweta folgte Lews Anweisungen nicht. Seine Briefe waren kostbar, und sie bewahrte jeden einzelnen auf. Auch ließ sie ihren Plan, ihn zu besuchen, nicht fallen.
Lew und Sweta hatten seit April eine zweite Reise erwogen. Diesmal war sie viel besorgter als zuvor. Ursprünglich beabsichtigte sie, im Sommer aufzubrechen. Zydsik, Swetas Chef, ermutigte sie und riet ihr, mehr Urlaubstage zu nehmen als im Vorjahr. »Gestern fragte M. A. [Zydsik], wann ich nach Kirow fahren wolle«, hatte sie Lew am 16. April geschrieben.
Ich erwiderte, dass ich Urlaub im August beantragt und mich außerdem für eine planmäßige Inspektion der Reifenfabrik in Kirow im selben Monat angemeldet hätte. Er aber sagte: »Fahr im Juli, wenn es wärmer ist, und bleib dort eine Weile ›sitzen‹, damit du nicht alles genauso abzuwickeln brauchst wie im letzten Jahr.« So ist die Lage. Aber ich habe nun viel mehr Angst als beim letzten Mal. Irgendwie war ich damals eher auf einen Misserfolg vorbereitet und ein bisschen emotionslos. Aber nun kann ich kaum nachdenken.
Ende Mai wurden Swetas Pläne gefährdet, im Anschluss an eine Inspektion in Kirow nach Norden weiterzureisen. Da fällige Zahlungen von Partnerorganisationen ausblieben, drohte das Institut, Fabrikinspektionen durch Wissenschaftler zu verschieben. »Falls die Dienstreisen für den ganzen Sommer ausgesetzt werden«, schrieb Sweta, »werde ich meinen Urlaub im Juli nehmen und mich damit zufriedengeben müssen. Es ist nicht das, was ich mir wünsche. Ich bin zu auffällig im Institut, als dass meine Abwesenheit unbemerkt bleiben würde. Man wird mich also fragen, wo ich gewesen bin und was ich gesehen habe.« Lew dagegen war der Meinung, Sweta solle Zydsiks Rat folgen, da sie auf seine Hilfe bei der Vertuschung ihrer Reise angewiesen war. Auch fürchtete er, dass es »sich als schwierig erweisen könnte«, später als im Juli zu fahren. Am 8. Juni hatte er Sweta geschrieben, sie solle einen Brief mit ihren detaillierten Plänen für die Reise an Tamara Alexandrowitsch schicken, die angeboten hatte, sie bei ihrer Ankunft in Petschora in Empfang zu nehmen.
Nun jedoch kursierten die Gerüchte über einen Konvoi nach Sibirien, und Lew, der damit rechnete, in die 3. Kolonie verlegt zu werden, forderte Sweta am 25. Juni auf, sämtliche Pläne fallenzulassen. Wie sich herausstellte, änderte sich die Situation einen Tag nachdem er die betreffende Nachricht abgeschickt
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