Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
gab ihr Essen und lehrte sie lesen und rechnen. »Heute wurde ich wieder als Vater angeworben«, schrieb er Sweta am 25. Oktober.
Ich traf zu meiner Schicht ein, und plötzlich erschien Tamara mit ihrer Schwester und ihrem kleinen Bruder. Ich habe Tamara schon erwähnt – sie ist 11 Jahre alt und von unendlicher Aufrichtigkeit und Zuneigung erfüllt. Jedenfalls, als sie mich gesehen hatte, ließ sie plötzlich ihre kleine Familie stehen (ihre Schwester ist 14 und ihr Bruder 6 Jahre alt), forderte die beiden auf, ohne sie nach Hause zu gehen, und lief auf mich zu. Sie warf die Arme um mich – ich weiß nicht, wie sie das schaffte – und verkündete, sie habe mich sehr vermisst. Zweimal sei sie bereitsvorbeigekommen, habe aber nicht auf mich warten können, doch nun werde sie bei mir bleiben, bis die Pfeife ertönte (bei Schichtende um 17 Uhr). Ich hörte, dass sie nun in die Schule, in die zweite Klasse, gehe. Also sind ihre Eltern anscheinend zur Vernunft gekommen. Sie zog ein altes rotes Seidenband hervor, knüpfte eine Schleife und sagte bedauernd, sie habe nur eines. Sweta, wenn es möglich ist, steck noch ein paar Bänder in ein Bücherpäckchen – und auch einige Kinderbücher.
Bald wurde er auch von Lida besucht. »Sie ist älter und … benimmt sich erwachsener. Die beiden sind die Töchter von drei Elektrikern und einem Maschinisten geworden, aber sie scheinen mich für ihren ›Haupt-Papa‹ zu halten.« Dank Lews Unterricht erhielten die Mädchen bessere Noten in der Schule, doch dann stahl Tamara mehrere billige Schmuckstücke von einem der Häftlinge. Lida brachte die Objekte zurück, aber Lew war desillusioniert. »Ich habe den Glauben an mich verloren«, schrieb er Sweta. »Du brauchst mir keine weiteren Bänder zu schicken. Tamara wird nicht mehr ins Werk kommen.«
Gleichzeitig las Lew eifrig sämtliche Bücher über Elektrotechnik, die er finden konnte, um die Funktionsweise des Kraftwerks zu verbessern, denn dessen schlechte Auslastung bremste die Produktion des Holzkombinats. Ohne ausreichenden Strom mussten die Werkstätten oft geschlossen werden (im Mai 1948 hatte man berechnet, dass die Maschinen für fast ein Viertel der Arbeitszeit außer Betrieb waren). Die Häftlinge saßen den ganzen Tag herum, rauchten und spielten Karten, bis der Strom wieder eingeschaltet wurde; danach mussten sie rund um die Uhr arbeiten, um den Produktionsplan zu erfüllen. »Unsere Arbeit hat keinen Rhythmus«, klagte einer der Parteiführer des Holzkombinats auf einer Versammlung am 12. Mai. »Wir taumeln von einem Chaos zum nächsten, um den Plan erfüllen zu können.«
Lew äußerte sich sehr kritisch über das unberechenbare Arbeitssystem im Holzkombinat. Seiner Meinung nach wurde das Werk von »Idioten« geleitet, und er erwähnte häufig die »Dummheiten«der Bosse, deren Entschlossenheit, die Produktivität um jeden Preis zu erhöhen, immer wieder zu mechanischen Pannen, Unfällen, Feuern und allgemeinem Chaos führte – sämtlich Faktoren, welche die Planerfüllung noch mehr erschwerten. Am 12. Mai zum Beispiel beschrieb Lew die fortlaufenden Reparaturen im Kraftwerk:
Was für ein schreckliches Durcheinander bei der Verlegung der neuen Betonfußböden. Wir mussten einen großen Teil der Drecksarbeit übernehmen: die Schaltung der Motorpumpe ersetzen, die die elektrische Abteilung fürchterlich ausgeführt hatte, neue Unterbrecher installieren und so weiter. Die Fußbodenarbeit wird deshalb so schluderig erledigt, weil keiner der Bosse, die sie beaufsichtigen, das geringste Interesse daran hat. Sie brauchen schließlich mit keiner Bestrafung zu rechnen, wenn die Sache misslingt. Enorme Mengen an Arbeit, Material, Zeit und Energie werden hier schlicht verschwendet – nichts wird zuverlässig erledigt. Dinge, deren Herstellung 10 Jahre gedauert hat, werden nach einem Jahr aufgegeben; Installationen, die provisorisch sein sollten, werden für jahrelangen Gebrauch überholt und nur äußerlich so hergerichtet, als erfüllten sie den Plan. Alles wird nachlässig abgewickelt – es sei denn, jemand wie Strelkow, der sich über jedes Detail Gedanken macht, hat die Leitung. Aber er ist einer von tausend, und selbst er ist nicht immer in der Lage, etwas an der Dummheit und Stagnation zu ändern, die so wesentliche Teile des Systems sind.
Lews Bemühungen, die Funktionsweise des Kraftwerks zu verbessern, waren ganz und gar freiwilliger Art. Er hatte keine politischen Motive – im Gegensatz zu
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