Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Strelkow, einem Altbolschewiken, der an das System glaubte und versuchte, es effektiver zu machen. Beide aber waren von ihrem Wesen her gewissenhaft, interessierten sich für ihre Arbeit und waren stolz auf die Ergebnisse. »Ich bin nicht in der Lage, ruhig in einem Raum zu sitzen, wenn die Uhr dort falsch tickt«, schrieb Lew an Sweta. »Ich kann mich nicht entspannen, wenn der Abstand zwischen dem ›Ticktack‹ und dem ›Tacktick‹unregelmäßig ist. Wenn ich unsere Elektriker, sogar die besten, bei der Arbeit beobachte, denke ich mir, welch eine Qual sie erleiden würden, wäre ich ihr Vorgesetzter.« Und die Elektriker hätten ihm zugestimmt.
     
Gestern bemerkte einer unserer Techniker, dass ich immer etwas zu tun finde. »Lew«, sagte er, »du ohne Arbeit, das ist das Gleiche wie ein Trottel ohne einen Klaps« (also ohne eine Ohrfeige). Es ist ein derber, aber zutreffender Vergleich: Ein Mann läuft herum, sucht nach einer konstruktiven Arbeit und ist zufrieden, wenn er sie gefunden hat; ein anderer lungert herum, steckt die Nase in Dinge, die ihn nichts angehen, stört all seine Kollegen, fängt sich schließlich eine Ohrfeige ein und tut, nachdem er seine Lektion gelernt haben sollte, trotzdem nichts.
     
    Lews Bemühungen im Werk hatten indes nicht nur mit seiner Gewissenhaftigkeit zu tun. Sie beruhten auch auf seiner Selbstachtung und dem Wunsch, während seiner Haft etwas Positives zu vollbringen, und vielleicht auch auf der Erkenntnis, dass er in diesen Jahren wenigstens einige neue Fertigkeiten erlernen musste, damit die Zeit nicht völlig verschwendet war und er das Lager mit der richtigen Geisteshaltung verließ, um sein Leben neu aufzubauen. (Im Rückblick auf seine Gefängnisjahre war Lew immer stolz darauf, dass es ihm gelungen war, die Kapazität des Kraftwerks zu erhöhen, bis es das Holzkombinat mit ausreichend Strom versorgen konnte.) Außerdem musste er sich ablenken, negative, selbstzerstörerische Gedanken unterdrücken und sich in der Arbeit verlieren, damit die Tage rascher vergingen – eine Überlebensstrategie, auf die viele Häftlinge zurückgriffen. 28
    Auch Selbstschutz spielte eine Rolle. Dadurch, dass er sich im Kraftwerk nützlich machte, konnte er sich seine privilegierte Position bewahren und die Gefahr verringern, mit einem Konvoi fortgeschickt –sein größter Albtraum – oder wieder einem Schlepperteam zugeteilt zu werden. Zudem hegte er die Hoffnung, seine Haftzeit zu verkürzen. Am 1. Mai 1948 wurde ein neues Punktesystem für die »Hilfstätigkeiten« (einschließlich des Kraftwerks) im Holzkombinat eingeführt: Tage, an denen ein Häftling zwischen 100 und 150 Prozent seiner Produktionsnorm erfüllte, wurden fortan als 1,25 Tage gezählt; zwischen 150 und 200 Prozent galten als 1,5 Tage, zwischen 200 und 275 Prozent als zwei Tage und über 275 Prozent hinausgehende Leistungen als drei Tage. »Wir könnten uns also in jeder Schicht einen Vierteltag verdienen«, schrieb Lew an Sweta, »was 6,5 Tage pro Monat oder über 2 ½ Monate pro Jahr bedeutet. Daneben besteht die Möglichkeit, zusätzliche Punkte für eine besonders herausragende Beurteilung durch den Chef der Anlagen zu bekommen oder sämtliche Punkte durch eine schlechte Beurteilung zu verlieren … Es ist eine Art Lotterie.«
    Das Risiko, mit einem Konvoi fortgebracht zu werden, war im Jahr 1948 sehr hoch, als die 4. Kolonie eingerichtet und mit Insassen aus dem Holzkombinat aufgefüllt wurde. Gleichzeitig verlegte man qualifizierte Häftlinge in die 3. Kolonie (sie bestand hauptsächlich aus Kriminellen und Arbeitern, die gegen die Lagervorschriften verstoßen hatten), wo die Arbeitsdisziplin gänzlich zusammengebrochen war, kaum ein Drittel der Produktionsziele erreicht wurde und wo es zu Aufruhr wegen der elenden Lebensbedingungen kam. Im Sommer 1948 ermutigte eine Reihe von erfolgreichen individuellen Fluchtversuchen und sogar Massenausbrüchen aus der 3. Kolonie etliche Häftlinge der 2. Kolonie, ihren eigenen Ausbruch zu planen. Die Nachricht, dass mehrere Flüchtlinge aus der 3. im Wald erschossen worden waren, konnte sie ebenso wenig abschrecken wie die Tatsache, dass andere zurückgekehrt waren, weil sie die Mücken nicht ertragen konnten. 29
    Gerüchten zufolge sollte ein »großes Häftlingskontingent« in die Lager Nordsibiriens verlegt werden, um die Unruhe einzudämmen, wie Lew Sweta am 24. Juni mitteilte. Er bat sie, keine Päckchen zu schicken, solange er die Situation nicht geklärt habe,