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Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Titel: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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ein oder zwei Wochen auf seiner Datscha besuchen würde.
    Derweil bekam Lew die verschärften Sicherheitskontrollen zu spüren. »Nach und nach werden hier alle möglichen neuen, strikten Vorschriften eingeführt«, schrieb er Sweta am 7. Juli, »obwohl sie bis jetzt noch keine ernsthaften Unannehmlichkeiten mit sich bringen.« Er hatte seit zehn Tagen keine Briefe von Sweta erhalten und wusste nicht, ob dies eine Folge der neuen Maßnahmen war. »Alles ist veränderlich – ein kurzes Schütteln, und die Farben wechseln wie in einem Kaleidoskop.«
    Am nächsten Tag nahm Lew Kontakt mit Lew Israilewitsch auf. Er rief ihn aus dem Kraftwerk an, wo es für Brandfälle ein Telefon gab, und erfuhr, dass Sweta ihre Reise nicht abgesagt hatte. Die Sicherheitsmaßnahmenwurden zügig vorangetrieben. Mitte Juli verlegte man die »Sonderaussiedler« aus der Industriezone, um Platz für einen neuen Konvoi politischer Häftlinge zu schaffen, was Lew in seiner Meinung bestärkte, dass das Holzkombinat in ein Lager mit Sonderregime umgewandelt werden sollte. Am 21. Juli warnte er Sweta erneut, dass es zu schwierig sei, für jenen Sommer ein Treffen zu planen. »Vielleicht wird 1949 ein besseres Jahr«, schrieb er. »Es scheint, dass das sogenannte verstärkte Regime hier spätestens nächste Woche in Kraft tritt.«
    Sweta hatte zwar beschlossen, ihren Urlaub hinauszuzögern, doch ihre Mutter überredete sie, eine Pause einzulegen und sich ab Mitte Juli der Familie ihres Bruders in Pereslawl-Salesski anzuschließen. Deren Holzsommerhäuschen hatte einen Obstgarten und lag an einem friedlichen, von einem Kiefernwald umgebenen See. Es war ein schöner, ruhiger Ort. Sie suchten Pilze und fuhren mit einem Boot auf dem See umher. Sweta schlief ausgiebig, aber ohne Lew fand sie keine geistige Erholung. »Mein Liebling Lew«, schrieb sie am 23. Juli,
     
eine Woche ist bereits vergangen, und ich habe nichts zu Papier bringen können. Dafür habe ich mich ausgeschlafen und Sonnenbäder genommen; alle sagen, ich hätte mich ein bisschen entspannt. Ich benehme mich vernünftig und weine nicht. Zwar versuche ich, nicht an Dich zu denken, aber ich habe Träume, in denen ich Dich in einem Dunst vor mir sehe. Ich behalte mich fest im Griff, um nicht über Deine Briefe und ihren Inhalt, über das, was möglich und was unmöglich ist, nachzudenken. Hier geht es mir nicht schlecht, aber das sagt mein Kopf, nicht mein Herz. Ich bin unfähig, mich am See, am Wald oder an der Luft mit meinem ganzen Wesen zu erfreuen. Mein Körper lockert sich, nicht jedoch meine Seele.
     
    Am 31. Juli traf Swetas Mutter aus Moskau ein und brachte drei Briefe mit. Sweta konnte ihre Aufregung kaum zügeln, als sie die Umschläge öffnete. Aber ihre Hoffnung schlug in Enttäuschungum, als sie den kurzen letzten Brief der drei las, in dem Lew eine Begegnung für jenes Jahr ausschloss und vernünftigerweise, doch fast beiläufig erklärte: »Vielleicht wird 1949 ein besseres Jahr.« Sweta war wütend – über alles und jeden –, und sie ließ ihren Zorn an Lew aus. Sie konnte nicht verstehen, wie er so bereitwillig ein ganzes Jahr abwarten wollte, obwohl sie sich dermaßen danach sehnte, ihn zu besuchen. In ihrer Verzweiflung schalt sie Lew, weil er zu glauben schien, er könne sie ohne jegliche Gewissheit, dass sie ihn sehen werde, in Reserve halten. »Ich würde gern erfahren, Lew«, schrieb sie am 2. August, »ob Du Dir vorstellen kannst, dass es besser für mich gewesen wäre, wenn es nicht so viele ›Wenn nurs‹ gegeben hätte. Das brauchst Du nicht zu beantworten, denn es ist keine Frage, sondern ein Tadel.« Erst am 9. August konnte sie sich gefasster äußern:
     
Ich habe seit einer Woche nicht geschrieben, weil meine Seele keine Ruhe und keinen Frieden gefunden hatte (und noch nicht gefunden hat). Als Mama zu uns nach Pereslawl kam und mir Deine Briefe übergab, geriet ich wieder völlig aus der Fassung (woraus keineswegs zu schließen ist, dass Du sie nicht hättest schreiben sollen). Ich ärgerte mich über all die vernünftigen Erwachsenen, die mir davon abgeraten hatten, nach Petschora zu fahren, und über Mama, die mich zwang, Urlaub zu nehmen (obwohl sie völlig recht hatte), am meisten aber natürlich über mich selbst, weil ich mit 30 Jahren die Dinge selbst entscheiden sollte. Ich ärgerte mich darüber, dass ich mich nicht beeilt hatte, Dich früher zu treffen, dass ich nicht sofort nach Hause gehastet und ins Institut gegangen war, um meine

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