Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
hatte, nämlich am 27. Juni, erneut. »Die letzte Entscheidung der wankelmütigen hiesigen (oder nicht so hiesigen) Behörden sieht vor, dass alles so bleibt, wie es war, oder fast so, wie es war, jedenfalls für den nächsten Monat, denn die Erfüllung des Plans könnte schwer beeinträchtigt werden, wenn die beabsichtigte Reform (erinnerst Du Dich an meinen Brief vom 25. Juni?) in die Praxis umgesetzt wird«, schrieb Lew. Ein Häftlingskonvoi sei gerade aus Sibirien, »wohin sie uns eigentlich nach der 3. Kolonie hatten verlegen wollen«, in der 2. Kolonie eingetroffen. Dadurch habe die Entscheidung, die Verschickung von Gefangenen hinauszuzögern, »einige Glaubwürdigkeit« erhalten. »Es kann sein«, mutmaßte Lew, »dass sie die ›Unzuverlässigen‹ mit den am schwersten wiegenden Artikeln hier konzentrieren werden. Sweta, der Rat aus meinem Brief vom 25.gilt weiterhin. Dieses Stück Papier ist nur für die sofortige Lektüre gedacht. Ich schreibe bald wieder, aber dies muss ich unverzüglich abschicken.«
Am 1. Juli bestätigte Lew, dass die 2. Kolonie zu einem Lager mit »verstärktem Regime« für die politischen Häftlinge werden würde. Insassen mit leichteren Strafen nach den sogenannten allgemeinen Artikeln (Diebstahl, Mord, Hooliganismus, unerlaubtes Entfernen vom Arbeitsplatz und so weiter) würden in der 3. Kolonie bleiben, wo erträglichere Bedingungen herrschen sollten. »Anscheinend werden uns [den politischen Gefangenen der 2. Kolonie] dadurch keine zusätzlichen Beschränkungen auferlegt«, fügte Lew hinzu, »doch die freien Arbeiter, die gegenwärtig innerhalb der Industriezone wohnen, werden verschwinden, ebenso wie die kleinen Produktionseinheiten, in denen freie Arbeiter und Sonderaussiedler beschäftigt sind.« Die Entfernung der freien Arbeiter aus der Industriezone würde es unmöglich machen, die Arrangements vom Vorjahr zu wiederholen, als sich Sweta und Lew bei den Alexandrowskis getroffen hatten.
Lew hatte recht, was die Straffung der Sicherheitsmaßnahmen innerhalb der Industriezone betraf, obgleich die Gerüchte über die bevorstehende Verlegung der freien Arbeiter nicht ganz zutrafen. Die Gulagleiter des Holzkombinats hatten tatsächlich beschlossen, wachsamer zu sein und die Kontakte zwischen freien Arbeitern und Häftlingen zu unterbinden. Auf einer geschlossenen Parteiversammlung am 12. Mai waren sie übereinstimmend der Ansicht gewesen, dass diese Kontakte für viele Verstöße gegen die Sicherheit verantwortlich seien, darunter das Schmuggeln von Briefen, der Wodkaschwarzmarkt und das illegale Eindringen von unautorisierten Besuchern ins Gefangenenlager. Sie hatten erwogen, die freien Arbeiter aus der Industriezone zu entfernen, diese Option jedoch am Ende als unpraktisch verworfen, weil dann neue Behausungen außerhalb der Zone gebaut werden müssten. Stattdessen kam man überein, die Siedlung, in der die freien Arbeiter wohnten, stärker von der übrigen Industriezone zu trennen, indem ein neuer Stacheldraht mit einem Wachhäuschen errichtet wurde.
Unterdessen hielt Sweta an ihren Plänen fest, in jenem Sommer nach Petschora zu reisen. »Die Sache ist entschieden«, teilte sie Lew am 25. Juni mit, gerade als er ihr schrieb, sie solle auf den Besuch verzichten. »Ich werde nach Kirow fahren und dann meine Reise sofort, wie im letzten Jahr, verlängern und dort, wo ich wirklich sein möchte, so viel Zeit wie möglich verbringen.« Vier Tage später erfuhr sie vom Chefbuchhalter des Instituts, dass bis mindestens Ende August kein Geld für Dienstreisen verfügbar sei. Daraufhin stellte sie einen neuen Urlaubsantrag für Juli, um in jenem Monat nach Petschora zu fahren. Sie erwartete, am 10. Juli abzureisen, und hatte bereits an Lew Israilewitsch geschrieben, um ihn über ihre Ankunft zu unterrichten. Zydsik genehmigte den Urlaub, empfahl Sweta aber, trotzdem nach Kirow zu fahren (was sie akzeptierte), um ihre tatsächlichen Pläne zu kaschieren.
Am 8. Juli erhielt Sweta Lews Brief über die strengeren Sicherheitsmaßnahmen sowie seine Warnung, die Reise nicht anzutreten. Sie erklärte sich bereit, nichts zu tun, bis er weitere Nachrichten sandte. Jemand musste das Labor in den Sommermonaten leiten, und sie würde im August, während Zydsik im Urlaub war, in Moskau bleiben. Im September beabsichtigte sie dann, entweder nach Petschora oder, falls das unmöglich war, nach Pereslawl-Salesski, 100 Kilometer nordöstlich von Moskau, zu fahren, wo sie ihren Bruder Jaroslaw für
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