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Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Titel: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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einer Frau, deren Mann im Arbeitslager eine andere gefunden hatte. Die Geschichte der Moskauerin war nicht ungewöhnlich. Viele Paare wurden durch zehnjährige Haftstrafen auseinandergerissen: Manche Frauen verleugneten ihre Männer im Gulag, wollten nicht auf sie warten oder hielten sie für tot, so dass sie ein neues Leben mit einem anderen begannen. Umgekehrt setzten sich etliche Ehemänner für eine Scheidung ein, um ihre Frauen und Kinder vor einer Diskriminierung als »Angehörige eines Volksfeinds« zu bewahren, oder sie sagten sich von ihren Ehepartnerinnen los und heirateten Frauen aus den Lagern, die mehr Verständnis für ihre Leidenszeit hatten.
    Diesmal besserte sich Swetas Stimmung durch die Reise nach Petschora. »Heute habe ich mich im Spiegel angeschaut«, schrieb sie Lew am Tag nach ihrer Rückkehr. »Ich sehe viel besser aus als nach meiner Ankunft aus Pereslawl[-Salesski].« Drei Tage später fühlte sie sich »glückselig und nett gegenüber allen«. Sogar nach drei Wochen war die Wirkung der Reise noch spürbar. »Ich bin von Glück erfüllt«, schrieb sie Lew. »Nicht genug damit, dass ich nicht mehr weine, ertappte ich mich vor ein paar Tagen sogar dabei, dass ich in der Straßenbahn lächelte.«
    Lew dagegen konnte an nichts anderes als an Sweta denken. »Mein Liebling, meine schöne Sweta«, brachte er am 4. September zu Papier, als er noch nicht erfahren hatte, ob sie heil zurückgekehrt war. »Ich weiß nicht, wie ich meinen Zustand beschreiben soll. ›Sehnsuchtsvoll‹ trifft es nicht genau, denn da ist auch Sorge. All meine Gedanken sind Dir gewidmet, und ich sehe nur Dich vor mir, nicht in ganzer Gestalt, sondern nur Deine Augen, Deine Augenbrauen und Dein graues Kleid.« Fünf Tage später, als er immer noch nichts von Sweta gehört hatte, gratulierte er ihr zum Geburtstag, aber seine Stimmung war gedrückt:
     
Mein Liebling Sweta, morgen ist Dein Geburtstag. Es ist so schwierig für mich, Dir etwas zu wünschen, mein Liebling, denn es gibt eine mächtige Kluft zwischen dem, was ich für Dich ersehne, und dem, was heute und in Zukunft möglich ist. Also müssen meine Wünsche klingen wie die Schwärmereien eines Fantasten, denen niemand Glauben schenkt. Wenn dieser Brief bis morgen bei Dir sein könnte, würde ich ihn nicht schreiben. Ich möchte Dich an diesem Tag nicht durch sinnlose Hinweise auf unsere Situation beunruhigen. Sweta, Sweta, wäre das Schicksal nur großzügiger gewesen, würde es doch nur auf uns herablächeln … Ich weiß nicht, was in der Zukunft geschehen und wie sie aussehen wird, aber ich möchte gern glauben, dass wir eine Zukunft haben werden. Ist es wirklich zu viel, daran zu glauben? … Pass auf Dich auf, Swet. Bleib gesund, Swetinka.
     
    Am 22. September, drei Wochen nach Swetas Abreise, hatte Lew immer noch nichts von Sweta gehört. Andere Häftlinge erhielten Briefe aus Moskau, die nur ein paar Tage vorher abgeschickt worden waren, doch für Lew war keiner dabei. Er war außer sich vor Sorge:
     
Mein Liebling Swetinka, von Dir ist kein Brief gekommen. Gott weiß, was ich mir vorstelle, während ich diese Zeilen zu Papier bringe. Es ist mir nicht peinlich, ein 32-jähriger Einfaltspinselzu sein, der gleichzeitig klingt wie ein lächerlich sentimentaler 16-Jähriger und eine ängstliche, ruhelose alte Mutter. Das Einzige, was ich fürchte, ist, Dich zu belästigen und Dich durch meine Wehklagen zu erzürnen, weil alles in Ordnung ist und die Verzögerung nur mit der Post zu tun hat. Ist das der Grund?
     
    Endlich, am 23., traf ein Brief ein.
     
Ich stellte mir die wüstesten Dinge vor und war in einer ganz unerträglichen Verfassung, als plötzlich ein Mann erschien, den ich kaum kenne, und mir einen Brief reichte, und sobald ich Deine Handschrift sah, vergaß ich, ihm zu danken. Swetik, Du bist mein – meine liebe, wunderbare Swetlaninka. Das einzige Problem ist, dass ich Dich mir nicht ausmalen kann, wenn ich Deine Briefe lese. Es gibt zwei Swetas – die eine, die mit den Augen gesehen wird, die andere, die in Deinen Briefen auftaucht. Wenn ich mir diese andere Sweta wünsche, rufe ich mir Wendungen, die Du geschrieben hast, ins Gedächtnis, aber sie kommen ohne Stimme zu mir und sind nicht mit Deinem Äußeren verknüpft. Wenn ich Dich sehen will, dann fällt es mir ohne Deine Briefe leichter. Daraus folgt jedoch nicht, dass ein Leben ohne Deine Briefe leichter für mich ist, Sweta, mein Liebling.
     
    Allmählich kehrte Lew in den Alltag

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