Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
zurück. Ein neuer Winter begann, und das Arbeitslager war wiederum nicht vorbereitet. Viele Gebäude hatten zerbrochene Fenster und Löcher im Dach, und es gab nicht genug Heizkörper und Glühbirnen für die Baracken der 2. Kolonie. In der Verwaltung wurde davon gesprochen, das gesamte Holzkombinat neu zu verkabeln, doch nichts geschah. Im November, nachdem der Fluss zugefroren war, begann die jährliche Säuberungsaktion im Arbeitslager, und man zündete gewaltige Feuer aus Abfallholz auf dem Eis an.
Lew wurde von Reparaturen im Kraftwerk in Anspruch genommen. »Die Tage vergehen sehr rasch«, ließ er Sweta wissen, »und abends schlafe ich sofort ein, weil ich den ganzen Tag im Werk herumlaufeund meine Arbeiten erledige. Ljubka – Gott sei Dank ist er noch hier – und ich haben gemeinsam eines der Paneele installiert, und zum ersten Mal seit der Eröffnung des Werks funktioniert die neu eingebaute Ausrüstung problemlos.«
Lew war beunruhigt wegen Gerüchten über einen neuen Konvoi zu den nördlichsten Lagern mit »Sonderregime«. Als die Liste der für jenen Konvoi bestimmten Häftlinge schließlich bekannt gegeben wurde, stand sein engster Freund und Kojennachbar Ljubka Terlezki darauf. Am 2. November schickte man ihn nach Inta, einem der härtesten Bergwerkslager im Gulag, 180 Kilometer nördlich von Petschora an der Eisenbahnstrecke nach Workuta. Es war eine Katastrophe für Lew, der Ljubka wie einen Bruder liebte und sich wegen seiner Jugend und körperlichen Schwäche um ihn sorgte. »Heute Abend haben sie Ljubka nun doch weggeschickt. Schurken, sie sind alle Schurken«, schrieb er spät an jenem Abend voller Verzweiflung an Sweta. Besonders enttäuscht war Lew darüber, dass Arwanitopulo nichts zum Schutz von Terlezki unternommen hatte, der doch so hart für ihn im Kraftwerk geschuftet hatte, während der neue Chef der Elektrogruppe, Alexander Semjonow, der Terlezki kaum kannte, »alles in seinen Kräften Stehende versucht« hatte, um ihn zu retten. »Wenn er nur ein wenig mehr Handlungsfreiheit gehabt hätte«, schrieb Lew, »wäre es ihm vielleicht möglich gewesen, eine Lösung zu finden. Das Ganze stinkt zum Himmel.«
Lew fürchtete, dass sein Freund den Konvoi nicht überleben würde. »Ljubka war nach der anstrengenden Arbeit ziemlich krank geworden, mit seinen Nerven am Ende und hatte abgenommen«, erläuterte Lew am 3. November. »Eine Reise unter den gegenwärtigen Frostbedingungen ist schwierig genug, sogar für die Stärkeren, aber bei seinem Zustand rechne ich mit dem Schlimmsten … Ich hatte nicht geglaubt, jemandem so nahestehen zu können. Meinst Du, dass er die nächsten 11 Monate überleben wird?« 33
Das Überleben im Gulag hing weitgehend von der Unterstützung durch Freunde ab, und Lew hielt Ljubka für seinen einzigenwirklich engen Freund im Arbeitslager, wie er Sweta am 9. November erklärte:
Ich bin nie fähig gewesen, mich bei jemandem auszuweinen, außer bei Dir, aber durch Ljubkas Anwesenheit fiel es mir leichter, schwierige Momente zu ertragen. Ich weihte ihn nie in irgendetwas ein, wenn mein Elend eine private Ursache hatte, und überhaupt schloss unsere Freundschaft keinerlei Sentimentalitäten ein. Aber sogar ein Streit mit ihm verschaffte mir eine gewisse Erleichterung, genau wie Gespräche über beliebige Dinge, triviale Dinge … Ljubka, Ljubka, wenn ich nur wüsste, ob Du noch lebst, wenn Du nur bis zum Tag Deiner Entlassung durchhalten kannst. Sweta, ich habe ihm Deine Adresse genannt, damit er sie sich einprägt – Du hast doch nichts dagegen? Nur für den Fall, dass es sein einziger Kontakt ist, obwohl er vielleicht nicht einmal versuchen wird zu schreiben – das sähe ihm ähnlich.
Am 3. Dezember begann Lew einen Brief an Ljubka.
Also, mein Freund, sei nicht wütend, wenn ich Dir schreibe. Ich weiß nicht einmal, ob oder wann der Brief abgeschickt wird. Es handelt sich natürlich um kläglichen Egoismus meinerseits – ich kann den Wunsch nicht unterdrücken, einer lebenden Seele ein paar Worte zu sagen, wenn auch nur brieflich, da es hier keine lebende Seele gibt. Vielleicht wäre es besser für Dich, keine Briefe zu bekommen – ich kenne Dich ja. Aber wenn Du es aushältst, dann wird dieser keinen Schaden anrichten.
Ljubka, egal, wie schlimm es dort ist, denk bloß an eines: Es wäre einfach närrisch, 8 ½ Jahre lang durchzuhalten, nur um im 9. aufzugeben, ob sich die Dinge nach dem 9. für Dich nun verbessern werden oder
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