Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
Nische, in der ein Tisch und eine Bank standen. Die Nische hatte sogar eine Tür, die geöffnet blieb, aber der Wärter blieb draußen. Auf dem Tisch lag ein Meldebuch, in das der Wachmann Besucher eintragen sollte. Sweta waren zwanzig Minuten zugestanden worden, doch der Wärter notierte ihre Ankunftszeit nicht. Falls sich jemand nach ihr erkundigte, konnte er behaupten, sie sei gerade erst eingetroffen und er habe die Zeit noch nicht eingetragen. Auf diese Weise hatten Lew und Sweta die Möglichkeit, an jenem Tag mehrere Stunden miteinander zu verbringen. Vor seinem Schichtende forderte der Wärter sie auf, am folgenden Mittag, wenn er erneut Dienst haben würde, wiederzukommen. Beide erschienen zur festgesetzten Zeit und saßen den ganzen Nachmittag über auf der Bank in der Nische. Währenddessen kamen und gingen Häftlinge und Wärter, knapp außer Sicht hinter der Nischentür. Ihre gemeinsame Zeit war einerseits länger, als sie hatten erwarten können, und andererseits hoffnungslos unzureichend.
Sweta verließ Petschora am 30. August. Lews treuer Freund Stanislaw Jachowitsch brachte sie zum Bahnhof, half ihr, eine Fahrkarte zu kaufen, und begleitete sie zum Zug nach Moskau. »Mein Liebling Lew«, schrieb sie auf der Fahrt nach Kotlas, »ein zweiter Tag ohne Dich ist bereits vergangen.«
Mein Waggon ist gemischter Art (oben schläft man, unten sitzt man), was bedeutet, dass die Leute öfter kommen und gehen [als in einem Schlafwagen]. Dafür reisen alle in meinem Abteil die gesamte Stecke nach Kotlas, wo der Zug fünf Stunden Haltmachen soll. Kotlas ist ein mieser Ort und der schmutzigste an der ganzen Strecke. Ich werde schlafen. Es ist eine kalte Nacht, aber ich habe ein Wollunterhemd an. Außerdem habe ich mich in eine Decke eingewickelt, so dass ich nicht frieren werde … Die Wälder sind schon nicht mehr so schlammig, sondern auf jene herbstliche Weise schön … Auf dem Platz unter mir sind ein paar Kinder: ein 10-jähriges Mädchen, ein Mädchen und ein Junge von 5 und ein weiteres Mädchen von 3 Jahren. Sie gehören zu drei Schwestern, deren Ehemänner sämtlich gefallen sind und die nun als Familie zusammenleben. Die Kinder sind lieb. Also dann, Ljowa, das ist alles für den Augenblick. Pass auf Dich auf, und Grüße an die Übrigen.
Erst am Abend des 4. September kam sie zu Hause an und fand ihre Eltern in Panik vor (die beiden hatten keines der Telegramme erhalten, die sie wie versprochen abgeschickt hatte, um sie wissen zu lassen, dass es ihr gutging). An jenem Abend schrieb Sweta an Lew:
Mein lieber, lieber Ljowa – endlich bin ich zu Hause. Ich hatte Dir einen weiteren Brief aus Gorki schicken wollen, doch die Zeit reichte nicht. Ich habe Dir von unterwegs zweimal geschrieben – zuerst von irgendeinem Bahnhof und dann aus Kirow. Der Regen sorgte dafür, dass alle Seitenstraßen in Kirow unbefahrbar wurden, aber es war nur Lehmschlamm, kein Sumpfboden wie in Kotlas. Der Zug von Kirow nach Gorki war uralt, doch an meiner Koje gab es nichts auszusetzen, und die Passagiere waren nett, weshalb ich in guter Stimmung eintraf. Den Platz unter mir hatten eine Mutter und Großmutter mit einem dreijährigen Jungen belegt, der noch nicht gehen und sprechen kann. Die Ärzte sagen, er brauche nicht behandelt zu werden und werde spätestens mit sechs Jahren – Ruhe und Frieden, Pflege und Fürsorge vorausgesetzt – völlig gesund sein. Der Junge sieht wunderschön aus – große Augen mit langen, dichten, geschwungenen Wimpern – und ist so liebevoll … In meinem Abteil war noch eine andere Frau, ebenfalls Moskauerin. Sie hattezehn Jahre auf ihren Mann gewartet [auf seine Rückkehr aus einem Arbeitslager] und war seinetwegen nach Kirow gezogen, nur um festzustellen, dass er eine andere geheiratet hatte … Für sie war die Welt leer geworden.
Wir trafen mit fast drei Stunden Verspätung in Moskau ein. Um 20 Uhr war ich zu Hause, und Mama kam mir auf der Treppe entgegen … Jetzt ist es 21 Uhr und draußen stockdunkel. Nun denn, mein Liebling, ich verabschiede mich vorläufig. Erinnere Dich an alles. Ich hoffe, Deine Seele wird Frieden finden und Dein Herz wird nicht durch zu viele Gedanken aufgewühlt werden. Aber falls Dir etwas Übles durch den Kopf geht, schreib mir sofort, und ich werde versuchen, Abhilfe zu schaffen. Die besten Wünsche und Grüße an alle.
Sweta fühlte sich stets zu Menschen hingezogen, die jemanden verloren hatten, doch dies war ihre erste Begegnung mit
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