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Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Titel: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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… Ich finde, dass er sich nicht verändert hat …
   Bei der Durchfahrt durch Uchta und Ischma hatte ich geradezu das Gefühl, in meiner Heimatstadt zu sein – so vertraut erschienen sie mir. Das Dorf war großenteils vom Zug aus zu sehen, doch die Fabrik liegt hinter dem Hügel. Die Sonne geht bereits unter, und man hat uns einen Halt von 30 Minuten versprochen. Also werde ich Dir diesen Brief schicken können.
   Pass auf Dich auf, mein Schatz.
     
    Es scheint ein seltsam alltäglicher Brief zu sein, wenn man bedenkt, dass sie ihn nach einer intensiven Begegnung mit dem Mann, den sie liebte, geschrieben hatte – als habe sie ihre Gefühle auf der langen Heimreise zügeln müssen. »Wir sind bis Kotlas gekommen«, meldete sie am 14. September in ihrem »zweiten Brief von unterwegs«. »Die Nacht ist problemlos vergangen … Sie machen sich nicht die Mühe, die Passagiere systematisch zu kontrollieren, sondern gehen in den Waggons auf und ab, um uns selektiv zu überprüfen.«
    Lew dagegen drückte sich viel lyrischer aus. »Mein Liebling Sweta«, schrieb er am 16. September,
     
Du bist immer noch überall bei mir. Wenn mir etwas Schönes einfällt – eine Melodie oder ein Vers von Puschkin oder Burns oder ein Gemälde –, denke ich stets an Dich und habe Dein Gesicht und Deine Augen vor mir, und mir ist leichter ums Herz, wenn ich mich an Dein Lächeln erinnere. Ich weiß nicht, ob es gut ist, darauf einzugehen – ich sollte es für mich selbst und nicht für Dich schreiben, aber ich kann nicht anders. Sweta,meine Swet, meine liebe Sweta. Wenn ich eine Melodie höre, von der ich weiß, dass sie Dir gefällt, scheine ich ihr zusammen mit Dir zu lauschen, und ich werde ruhiger und bin besser in der Lage, die Dinge zu ertragen. Ich werde freundlicher anderen gegenüber. Meine Sweta, wie wunderbar ist es, dass es Dich gibt , dass ich immer und in allem – in Dichtung oder Prosa, in der Musik und sogar in meinen Schaltplänen – nur Dich sehe.
     
    Zwölf Tage nach ihrer Abreise tauchte Sweta wieder in Lews Träumen auf, »doch nun habe ich Dich ohne Gesichtszüge und überhaupt ohne Gesicht vor mir, weiß aber trotzdem, dass Du es bist«. Mehrere Nächte hindurch quälten ihn Albträume, aber dann hatte er dreimal hintereinander den äußerst lebhaften Traum, den er bereits seit 1945 aus dem SMERSCH-Gefängnis in Weimar kannte: den Traum von Sweta in einem weißen Kleid.
    Ein paar Wochen später las Lew Turgenews Adelsnest , einen Roman über eine Liebe, die von den Umständen und der Vergänglichkeit, wenn nicht der Unerreichbarkeit, des Glücks durchkreuzt wird. Lew konzentrierte sich bis spät in die Nacht hinein auf das Buch und teilte Sweta dann seine Eindrücke mit:
     
Ich begriff, dass das Schrecklichste im Leben völlige Hoffnungslosigkeit ist … Jedes »Vielleicht« durchzustreichen und den Kampf aufzugeben, wenn man noch genug Kraft dafür hat, ist die schlimmste Form des Selbstmords. Es ist fast unerträglich, dies an anderen zu beobachten. Unbegründete Hoffnung – Erlösung für die im Geist und Verstand Schwachen – verärgert mich. Aber der Verlust der Hoffnung bedeutet die Lähmung – oder gar den Tod – der Seele. Sweta, lass uns hoffen, solange wir noch die Kraft dazu haben.
     
    34 Semjonow, der Chef der Elektrogruppe, war ein politischer Häftling, den man 1944 zu zehn Jahren verurteilt hatte.
     
    35 Romane des russischen Schriftstellers Alexander Grin (1880–1932), dessen wirklicher Name Grinjowski war.
     
    36 Sweta zitiert einen berühmten Satz Katharinas der Großen ( »Pobeditelei ne sudjat« ) , den sie angeblich 1773 aussprach, als General Suworow vor ein Militärgericht gestellt wurde, nachdem er entgegen den Befehlen von Feldmarschall Rumjanzew eine türkische Festung an der Donau erobert hatte.
     
    37 Das russische Wort für Wodka beginnt mit dem dritten Buchstaben des kyrillischen Alphabets.
     
    38 Er muss Sweta während ihres Besuches geholfen haben.

9
     
    »1950 – ein halbes Jahrhundert neigt sich dem Ende zu«, schrieb Lew Sweta am 8. Januar. Mit dem Beginn des neuen Jahres rechnete er nach. In zwei Wochen würde er 33 Jahre alt werden.
     
Mir scheint, dass die Hälfte meines Lebens vergangen ist – womit ich einverstanden bin, wenn es wirklich nur die Hälfte war. Wie viele der übrigen Jahre werde ich nicht als vollgültig mitzählen können, weil ich zu alt bin? Diese Berechnungen haben nur dann einen Sinn, falls es keine »Wenns« gibt, denn jedes

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