Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
ihrer Herkunft oder Verwandtschaft hier ist«. In den Krankenstationen von Petschora arbeiteten etliche verurteilte Mediziner. Am 20. April erwähnte Lew eine Ärztin namens Nina Grin, die im Sanitätsbereich des Übergangslagers tätig sei:
eine Frau in den Vierzigern, die in den Fünfzigern sein wird, wenn sie ihre Dienstreise hierher [d. h. ihre Haftzeit] beendet. Aber sie dürfte in Wirklichkeit Grinjowskaja heißen. Wenn die Patienten sie bitten, ihnen etwas vorzulesen, greift sie zu Purpursegel oder zu Wogengleiter . 35 Alle Patienten lieben sie.
Wie Lew anscheinend erraten hatte, war Nina die Witwe des Schriftstellers Alexander Grin (bzw. Grinjowski), dessen romantische Meeresabenteuer, die Lew damals leidenschaftlich gern las, vonder grimmigen Realität des Gulag nicht weiter hätten entfernt sein können. Nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1932 hatte Nina sich als medizinische Assistentin ausbilden lassen und in Feodossia auf der Krim gearbeitet. Während des Krieges schickten die Deutschen sie in ein Konzentrationslager bei Breslau, und 1945 verurteilten die Sowjets sie wegen Kollaboration mit dem Feind zu zehn Jahren in Petschora.
Eine weitere medizinisch Tätige im Übergangslager war Swetlana Tuchatschewskaja, die Tochter von Marschall Tuchatschewski, der 1937 in einem Geheimprozess als Spion verurteilt und dann erschossen worden war. Nach der Verhaftung ihres Vaters wurde Swetlana mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern nach Astrachan gesandt, und als man auch ihre Mutter inhaftiert hatte, in einem Waisenhaus untergebracht, wo sie bis 1941 blieb. Im Chaos der ersten Kriegstage floh sie aus dem Waisenhaus, wurde jedoch vom NKWD aufgespürt und im Anschluss zu fünf Jahren in Petschora verurteilt. Eine ebenfalls von den Repressionen betroffene deutsche Ärztin namens Agata Rempel strich Swetlana von der Häftlingsliste und versteckte sie in der Krankenstation. Die Ärztin wusste, dass die schöne, damals 24-jährige Swetlana, die Tochter eines berühmten Sowjetmarschalls, niemals überleben würde, wenn sie sich allein unter den Häftlingen behaupten musste. Die junge Frau arbeitete in der Krankenstation und wohnte in verschiedenen Häusern im Ort, wo freiwillige Arbeiter sie aufnahmen und verbargen.
Am 2. Juli kamen die Parteiführer des Holzkombinats zusammen, um einen MWD-Erlass (Nr. 10 190) zu diskutieren, der die strengere Isolierung der Häftlinge vorsah. Nichts war zur Umsetzung des Erlasses unternommen worden, seit man ihn im März 1947 verabschiedet hatte. Es gab keine systematischen Durchsuchungen der Häftlinge und ihrer Baracken, weshalb alle möglichen Dinge in die Gefängniszone hinein- und aus ihr herausgeschmuggelt wurden. Auch die Industriezone und die Siedlung der freien Arbeiter waren nicht ordnungsgemäß voneinander getrennt. Die Aufseher an der Hauptwache nahmen Bestechungsgelder, um Güter und Personen durchzulassen. Viele machten auf dem Schwarzmarkt gemeinsameSache mit den Insassen. Zum Beispiel fertigte ein Häftling namens Ljaschuk, der als Schneider ausgebildet war, Kleidungsstücke für etliche Wärter an; ein anderer, ein Koch namens Kosarinow, bereitete Mahlzeiten für sie zu. Man betrieb sogar einen Schwarzmarkt für »Regierungsgeheimnisse« (offizielle Dokumente), die aus dem MWD-Hauptquartier innerhalb der Siedlung gestohlen und an die Häftlinge verkauft wurden. Einige gelangten so in den Besitz ihrer Personalakten und fälschten die Artikel, nach denen sie verurteilt worden waren, oder änderten ihr Entlassungsdatum.
Die Parteiversammlung führte zu einem neuen Passierscheinsystem, strikteren Besuchskontrollen, häufigeren Durchsuchungen der Baracken, dem Verbot von Militäruniformen (die noch von einigen Häftlingen getragen wurden), dem Ende der Verteilung von Trockenrationen (die bei Fluchtversuchen nützlich waren), der Reparatur der Stacheldrahtumzäunung (die mehrere Löcher aufwies), der Rodung der Büsche zwischen dem Zaun und der Windmühle (von wo Äxte, Zangen, Sägen und andere Geräte aus den Büschen in die Barackenzone geworfen worden waren), der verstärkten Bemannung der Wachtürme (von denen drei seit mehreren Monaten unbesetzt gewesen waren) und schließlich, nach einem Jahr Diskussion, der Errichtung eines Zaunes und einer neuen Wache zwischen der Siedlung und der Industriezone.
»Was dieses Jahr aus dem Besuch wird, weiß ich einfach nicht«, schrieb Lew an Sweta. »Die neuen Maßnahmen bieten keinen Trost.« Erneut aber war Sweta
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