Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
zurückführen ließ. Diese Häftlinge hatten keine Angst vor Gewalt. Und wenn sie nicht entlohnt wurden, waren sie nicht geneigt, ihre Planziele zu erfüllen.
Im Jahr 1950 wurde das Nord-Petschora-Eisenbahnlager unter der Bezeichnung Petschorlag (Petschora-Arbeitslager) umorganisiert und damit beauftragt, einen zweiten Schienenstrang zwischen Kotlas und Workuta zu bauen. Die provisorische Einzelspur, die so hastig in den Kriegsjahren verlegt worden war, konnte weder den massiven Anstieg der Kohleproduktion im Workutabecken noch die Anforderungen von Petschora bewältigen, das durch die Fertigung des Holzkombinats zu einem wichtigen Industriezentrum geworden war.
Der Bau eines zweiten Schienenstrangs war eine Herausforderung für die Petschorlag-Bosse. Schwere körperliche Arbeit musste geleistet werden, um den Wald zu roden, Dämme zu graben, die Schwellen und Schienen vorzubereiten und zu verlegen. Man würde Tausende von neuen Häftlingen in den Arbeitslagern und -kolonienan der Strecke benötigen. Die Produktivität des Holzkombinats musste erheblich verbessert werden, um den erhöhten Bedarf an Schwellen, Baracken und anderen Baukomponenten zu befriedigen. Die Gulagleitung stand unter enormem Druck, da die Bahnlinie innerhalb eines Jahres fertiggestellt sein sollte. Ohne neue Anreize hatte sie jedoch keine Aussicht, den Bau in weniger als zwei oder gar drei Jahren abzuschließen, denn die Häftlinge waren einfach zu demoralisiert.
Auf einer Reihe von Versammlungen im Januar1950 , bei denen man darüber diskutierte, warum das Holzkombinat den Plan im Vorjahr nicht erfüllt hatte, wurden die üblichen Gründe genannt: Knappheit an Rohstoffen und Energie, schlechte Organisation, mangelnde Fachkenntnis bei den Häftlingen usw. In erster Linie jedoch verwiesen die Funktionäre auf die »alarmierend gestiegene Zahl von Fällen, in denen Häftlinge ihre Normen nicht erfüllen«, und auf »die zunehmende Arbeitsverweigerung der Häftlinge«.
Um den Eisenbahnbau zu beschleunigen, führten die Gulagbehörden ein neues System materieller Anreize ein, darunter die Zahlung von Löhnen. Der Vorschlag, Häftlinge zu bezahlen, ging auf einen Regierungserlass vom November 1948 zurück. Durch den Erlass wurde einigen ausgewählten Lagern gestattet, »Geldprämien« von bis zu 30 Prozent der Löhne, die Arbeiter in den entsprechenden Sektoren der Zivilwirtschaft erhielten, zu verteilen. Seit dem Frühjahr 1950 wurden diese Prämien überall im Gulag (mit Ausnahme der Sonderregime-Lager) gezahlt.
Das Lohnsystem galt ab dem 1. Mai auch für das Holzkombinat. Ungelernte Arbeiter bezogen 90 Rubel im Monat, Facharbeiter das Doppelte. 39 Nach den neuen Regeln würde das Holzkombinat einen Gewinn erwirtschaften müssen, um weiterhin Geld und Nachschub von der Gulagverwaltung in Moskau zu erhalten. Niemand war sicher, ob der geplante Produktivitätsanstieg ausreichen würde, umsowohl die Löhne der Häftlinge als auch die Kosten ihres Lebensmittelminimums, das weiterhin garantiert wurde, zu decken. Sogar die Leiter des Holzkombinats hatten Zweifel, trotz der Anschlagbretter, die sie überall – im Clubhaus, in den Werkstätten und Baracken – aufstellen ließen, um für den Plan zu werben. In der 11. Kolonie, einem der abgelegensten Waldlager, wo man das Lohnsystem bereits ausprobiert hatte, war es zu einem Produktivitätszuwachs gekommen, der jedoch nicht ausreichte, um die Kosten wettzumachen, da etliche Häftlinge immer noch nicht zügiger arbeiteten als zuvor. Für die Insassen war das Geldsystem vor allem mit zwei Problemen verbunden: Sie konnten kaum verhindern, dass die Wärter ihre Löhne stahlen oder sie in Form von Bestechungsgeldern für sich abzweigten; und im Übrigen gab es nicht viel zu kaufen. Der Kiosk in der entlegenen Kolonie hatte ein paar Dosen Wurstfleisch, einige Lutschbonbons und kaum etwas anderes anzubieten. Allerdings konnte man Wodka und Tabak mühelos auf dem Schwarzmarkt erwerben.
Trotzdem war Lew froh darüber, Geld zu verdienen. Dadurch konnte er die Schulden begleichen, die er seiner Meinung nach bei seinen Tanten, seinem Onkel Nikita und anderen Verwandten aufgrund der vielen Pakete angehäuft hatte, und er fühlte sich nicht mehr so wie das hilflose »Kind, das andere Leute füttern müssen«. Dabei sei es doch vielmehr seine Pflicht, diese Personen »zu versorgen«, wie er in seinen frühen Briefen an Sweta erklärt hatte. Im Juli schickte er Tante Olga etwas Geld. »Sie drohen, uns in
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