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Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Titel: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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einzelne könnte meinem persönlichen Kalender im Nu ein Ende machen.
     
    Einstweilen musste er sich darauf konzentrieren, die Kälte zu überleben: »Beißender Frost setzt ein. Gestern waren es minus 47 und vorgestern minus 49 Grad. Heute hat es ein bisschen auf minus 36 Grad ›getaut‹, aber die Temperatur fällt schon wieder.«
    Die Zahl der Gulag-Insassen erreichte in den frühen 1950er Jahren ihren Höchststand. Nach der amtlichen Statistik befanden sich in den Arbeitslagern und -kolonien des Gulagsystems damals 2 561 351 Häftlinge, eine Million mehr als im Jahr 1945. Obwohl dies nur zwei Prozent der Arbeitskräfte des Landes ausmachte, war der tatsächliche Beitrag des Gulag zur Sowjetwirtschaft weitaus bedeutsamer. Gulag-Arbeiter spielten eine besonders wichtige Rolle bei der Förderung von Edelmetallen in kalten, entlegenen Regionen, wo es sehr teuer, wenn nicht unmöglich war, freies Personal zu beschäftigen. Daneben wirkte der Gulag vorrangig an den großen Bauprojekten der späten 1940er und frühen 1950er Jahre mit, die – zumindest offiziell – zu Symbolen der Nachkriegsleistungen des Sowjetsystems werden sollten: am Wolga-Don-Kanal, an der Baikal-Amur- und der Transpolar-Eisenbahn, am Ausbau der MoskauerMetro sowie an dem gewaltigen neuen Komplex der Moskauer Universität auf den Leninhügeln, einem der sieben Zuckerbäckergebäude (»Stalins Kathedralen«) im bombastischen »sowjetischen Empire-Stil«, die damals in der Hauptstadt in die Höhe schossen.
    Sweta war beeindruckt von der neuen Universität, deren Hauptgebäude, das bei Weitem höchste der Stadt, von fast jedem Punkt im Moskauer Zentrum zu sehen war. »Sie gleicht einer ganzen Ortschaft, die nachts erleuchtet ist, und die Umrisse des Hauptgebäudes treten wirklich schön hervor«, schrieb sie Lew. Ob Sweta wusste, dass der neue Gebäudekomplex von Gulag-Arbeitskräften errichtet worden war, ist zweifelhaft. Sie brachte die gleiche naive Begeisterung für viele der anderen großen Bauprojekte des Kommunismus zum Ausdruck, die sämtlich von Häftlingen verwirklicht wurden. Auch Lew imponierte das Propagandabild dieser riesigen Baustellen. Im Clubhaus des Holzkombinats, in dem manchmal Filme gezeigt wurden, sah er einen Dokumentarstreifen über den Wolga-Don-Kanal, und »die ganze Stunde lang«, schrieb er Sweta später,
     
dachte und fühlte ich nichts anderes als Stolz und Bewunderung für die Kraft des menschlichen Geistes und die systematische, harmonische Umwandlung Tausender von Ideen in ein greifbares Wunder. Der Film hatte natürlich zahlreiche Mängel, vor allem ließ er eine gewisse Hast und Zusammenhanglosigkeit erkennen, und trotzdem machte er einen enormen Eindruck.
     
    Wie war das möglich? Lew wusste schließlich, dass Gulag-Arbeiter für den Wolga-Don-Kanal eingesetzt wurden, denn einer seiner Mithäftlinge, Alexander Semjonow, der Leiter der Elektrogruppe, hatte sich als Ingenieur zu der Baustelle versetzen lassen. Außerdem mussten sich Lews politische Ansichten seit seiner Verhaftung durch SMERSCH im Jahr 1945 gewandelt haben. Er hegte keine Illusionen mehr über den Kommunismus und die sowjetische Gerechtigkeit. Trotzdem glaubte er immer noch stolz an die progressive Kraft der sowjetischen Wissenschaft und Technik, sogar innerhalb des Gulag. Seine eigenen gewissenhaften Bemühungen, die Funktionsweisedes Kraftwerks zu verbessern, waren kennzeichnend für diesen Glauben.
    Der Gulag bildete einen gigantischen Archipel aus Arbeitslagern und Bauplätzen, Bergwerken und Eisenbahnbaustellen – eine Sklavenwirtschaft, die einen Schatten über die gesamte Sowjetunion warf, obwohl tatsächlich nur wenige etwas von ihrer Existenz mitten im Land ahnten. In den Nachkriegsjahren kam es zu einer allmählichen Verschmelzung zwischen der Gulag- und der Zivilwirtschaft. Alljährlich wurde ungefähr eine halbe Million Gulag-Arbeiter für den Zivilsektor abgestellt, hauptsächlich im Baugewerbe oder wo immer die Zivilministerien über Personalmangel klagten; etwa die gleiche Zahl von »Freien« leistete bezahlte Arbeit für die Gulag-Industrien. Man sah sich zunehmend genötigt, sogar den Zwangsarbeitern materielle Anreize zu bieten, um sie zu motivieren. Die Bevölkerung der Lager war widerspenstiger und weniger kontrollierbar geworden, was sich in der Nachkriegszeit auf den Zustrom von Rote-Armee-Soldaten, ausländischen Kriegsgefangenen sowie ukrainischen und baltischen »Nationalisten«, die das Sowjetregime ablehnten,

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